Evo Morales wollte sich eine weitere Amtszeit sichern, am Ende scheiterte sein Plan.

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Jeanine Áñez polarisiert als Interimspräsidentin und weckt vor allem bei Indigenen Ängste.

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Bolivien stehen spannungsgeladene Monate bevor. Zweieinhalb Monate nach dem erzwungenen Rücktritt des sozialistischen Präsidenten Evo Morales beäugen die Anhänger seiner "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) und das bürgerlich-rechte Lager um Interimspräsidentin Jeanine Áñez einander misstrauisch. Jede Seite wirft der anderen antidemokratisches Gebaren und Fundamentalismus vor. 2020 wird sich zeigen, ob in Bolivien Aussöhnung und demokratische Erneuerung gelingen oder ob die Polarisierung das Andenland wieder in die Instabilität zurückwirft, wie sie vor Morales üblich war.

Anfang Mai, so der Fahrplan des neuen Wahlrates, werden die Bürgerinnen und Bürger erneut an die Urnen gerufen. Es werden die ersten Wahlen ohne Morales sein. Ende November nämlich hat das Parlament mit Stimmen der MAS ein Gesetz verabschiedet, das allen Politikern, die in den vergangenen zwei Legislaturperioden durchgehend ein Amt innehatten, eine erneute Kandidatur für die gleiche Position verbietet. So steht der Weg offen für eine Erneuerung der politischen Elite. Davon erhofft sich der moderatere Flügel der MAS eine Emanzipierung von der bisherigen, zunehmend autoritär agierenden Führungsriege bei gleichzeitiger Bewahrung der progressiven Errungenschaften.

Doch so leicht gibt sich der mittlerweile im argentinischen Exil lebende Morales nicht geschlagen. Er will weiterhin die Fäden ziehen – und gerade das könnte sich als Bumerang erweisen. Seit 2006 hat er Bolivien regiert. Seine Amtszeit brachte wirtschaftliche Stabilität und sozialen Aufstieg für die indigene Bevölkerungsmehrheit. Zum Verhängnis wurde dem 60-Jährigen jedoch sein Klientelismus und sein Kleben an der Macht. Er setzte 2019 entgegen der Verfassung und einem für ihn negativen Plebiszit seine erneute Kandidatur durch – mit der fadenscheinigen Erlaubnis des von ihm kontrollierten Verfassungsgerichts, das sich auf seine Bürgerrechte berief.

Bei der Wahl im Oktober kam es laut Prüfungen durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sowie die EU zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten. Das brachte das Land in Aufruhr: Als bewaffnete Anhänger und Gegner von Morales aufeinanderprallten und die Situation außer Kontrolle geriet, legten die Streitkräfte Morales den Rücktritt nahe. Ihm folgten zahlreiche Minister und Abgeordnete, sodass die Interimspräsidentschaft der Senatorin Áñez zufiel, einer Vertreterin der erzkonservativen Unternehmerelite aus dem Tiefland.

Umstrittene Haftbefehle

Statt zu mäßigen goss Áñez Öl ins Feuer und beschwor, mit der Bibel das indigene Heidentum aus dem Präsidentenpalast zu vertreiben. Das löste bei den Indigenen Furcht vor einer rassistischen Vendetta aus. Neun hohe Funktionäre der MAS flohen in die mexikanische Botschaft, was zu diplomatischen Verstimmungen führte. Áñez stellte auch außenpolitisch Weichen, insbesondere im Hinblick auf die Integration Boliviens in die rechtsbürgerliche Lima-Gruppe, die in Lateinamerika klar Stellung bezieht gegen die sozialistischen Länder, allen voran Venezuela und Kuba.

Vor einigen Tagen erließ die Staatsanwaltschaft nun Haftbefehl gegen Morales wegen Volksverhetzung und Terrorismus. Auch fast 600 MAS-Funktionäre, so Justizminister Alvaro Coimbra, müssen mit Verfahren rechnen wegen Terrorismus, Drogenhandels und Korruption – für die Gegenseite ein schmutziges Spiel des bürgerlichen Lagers, um die MAS zu schwächen und mögliche Kandidaten aus dem Rennen zu nehmen. Denn die MAS ist Umfragen zufolge weiterhin stärkste Kraft im Land und hat Chancen auf den Wahlsieg, sofern sie der Versuchung einer Spaltung widersteht.

Das bürgerliche Lager geht, so der aktuelle Stand, tatsächlich gespalten ins Rennen: mit dem gemäßigten Carlos Mesa und einem Rechts-außen-Flügel, für den Luis Fernando Camacho, der Anführer der profaschistischen Jugendorganisation der Provinz Santa Cruz, antreten wird – zusammen mit dem indigenen Gewerkschaftsführer Marco Antonio Pumari als Vize. (Sandra Weiss, 10.1.2020)