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Auf einen Rollator gestützt verlässt Harvey Weinstein das Gerichtsgebäude. Begleitet wird er von seiner Anwältin Donna Rotunno.

Foto: Reuters / Eduardo Munoz

Begonnen hat es mit einer Tortur. So hat James Burke, vorsitzender Richter im Prozess gegen Harvey Weinstein, die Aufgabe genannt, die bei jedem amerikanischen Gerichtsverfahren am Anfang steht, sofern vor Geschworenen verhandelt wird. Zwölf Mitglieder der Jury sind auszuwählen, dazu sechs Ersatzleute. Eine Jury hat unvoreingenommen zu sein, im Idealfall hat sie von den Straftaten, über die es zu befinden gilt, allenfalls am Rande etwas mitbekommen.

Letzteres ist angesichts der unzähligen Medienberichte zur Causa Weinstein natürlich so gut wie unmöglich. Realistisch gesehen geht es also darum, Geschworene zu finden, die trotz allem, was sie gehört, gelesen, im Fernsehen gesehen haben, in der Lage sind, neutral abzuwägen.

500 Kandidaten zur Auswahl

Eine mühselige Pflicht für alle Beteiligten, so hat Burke die langwierige Auslese charakterisiert. 500 Kandidaten hat er vorgeladen, bis Ende kommender Woche soll die Jury stehen, erst dann beginnt die eigentliche Verhandlung. Wie kompliziert sich schon das Vorgeplänkel gestaltet, offenbarten die ersten Sitzungstage im Saal 1530 des New York Supreme Court. Eine Frau sprach, ohne ins Detail zu gehen, von der "Begegnung", die eine Freundin mit Weinstein gehabt hatte, weshalb sie ganz sicher befangen sei.

Eine Zweite sagte, sie habe gerade ein Buch Ronan Farrows gelesen, des Journalisten, der Weinsteins Verfehlungen als einer der Ersten aufgedeckt hat. Schon deshalb glaube sie nicht, dass sie Fairness aufbringe. Eine Dritte erklärte, nachdem sie selbst vergewaltigt worden sei, werde sie bestimmt nicht kühl urteilen können.

Prompt wiederholten Weinsteins Anwälte, was sie schon vor Wochen in Interviews erklärt hatten: dass sich in Weinsteins Heimatstadt, im liberalen New York, niemand finde, der sich noch keine Meinung gebildet habe. Bereits im Oktober hatten sie beantragt, das Verfahren nach Albany zu verlegen, in die vergleichsweise schläfrige Stadt auf halber Strecke zwischen der Megacity und der kanadischen Grenze.

Abkühlphase abgelehnt

Burke hatte es ebenso abgelehnt, wie er Weinsteins Verteidigern auch jetzt die kalte Schulter zeigte. Die verlangten zunächst eine Abkühlphase, eine längere Pause, nachdem ihr Mandant Anfang Jänner auch in Los Angeles verklagt worden war – und sein Name nun erst recht in aller Munde sei. Als Nächstes forderten sie, den Richter wegen Befangenheit auszuwechseln.

Der hatte den Angeklagten scharf zurechtgewiesen, weil dieser das Handyverbot im Gerichtssaal missachtete: "Ist das wirklich die Art und Weise, wie Sie für den Rest Ihres Lebens im Gefängnis landen wollen, indem Sie gegen ausdrückliche Anweisung Textnachrichten schreiben?" Der Satz offenbare die Feindseligkeit des Gerichts, argumentierte Arthur Aidala, einer der Anwälte Weinsteins. Am Anfang jedes Verfahrens, erwiderte Burke, stehe die Unschuldsvermutung. Das gelte natürlich auch in diesem Fall.

Sinnbild eines Systems

Mehr als 80 Frauen, darunter Stars wie Angelina Jolie und Gwyneth Paltrow, beschuldigen den ehemaligen Leinwandmogul, sich sexuell an ihnen vergangen zu haben. Viele der mutmaßlichen Opfer klagen bis heute über Albträume. Viele schildern ein Muster, nach dem Weinstein, allmächtig in Hollywood, Karrieren zu ruinieren drohte, wenn man sich ihm verweigerte. Oder aber Karrieren zu fördern versprach, wenn man sich beugte. Mit den Enthüllungen im Herbst 2017 kam die MeToo-Bewegung in Fahrt. Deshalb ist Weinstein mehr als nur ein Tatverdächtiger. Er ist das Sinnbild eines Systems, in dem Männer ihre Macht missbrauchen.

Dabei sind es nur zwei Fälle, die in New York verhandelt werden. Zum einen klagt Mimi Haleyi, eine frühere Produktionsassistentin Weinsteins, die 2006 von ihm zum Oralsex gezwungen worden sein soll. Eine zweite Frau, deren Name bislang nicht publik ist, wirft dem heute 67-Jährigen vor, sie 2013 in einem Hotel in Manhattan vergewaltigt zu haben.

Dutzende weitere Fälle sind verjährt oder Gegenstand zivilrechtlicher Vergleiche. Gleichwohl wird unter anderem Annabella Sciorra als Zeugin aussagen, eine Schauspielerin der Fernsehserie The Sopranos. Weinstein soll sie 1993 sexuell genötigt haben.

Warten auf die Schwachstelle

Worauf sich die Opfer gefasst machen müssen, ist eine Verteidigung, die jede potenzielle Schwachstelle auszunutzen versteht. Neben Aidala hat Weinstein Donna Rotunno angeheuert, eine Spezialistin für Sexualstraftaten, die bekannt ist für gnadenlos harte Kreuzverhöre.

Keine der beiden Klägerinnen, behaupten Aidala und Rotunno, sei zu etwas gezwungen worden. Eine soll Weinstein noch vier Jahre nach der mutmaßlichen Tat in einer E-Mail geschrieben haben, dass sie ihn liebe, ihn immer lieben werde, es jedoch hasse, sich wie jemand zu fühlen, der nur für Gelegenheitssex gut sei. Dazu wollen die Staatsanwälte eine Gerichtspsychiaterin namens Barbara Ziv befragen. Die gab im Prozess gegen Bill Cosby zu Protokoll, dass Opfer sexueller Gewalt bisweilen erst spät erkennen, was ihnen widerfahren sei. (Frank Herrmann aus Washington, 9.1.2020)