Mit der aufkommenden Dunkelheit kriecht Kälte über die Reling. Sticht langsam in die Augen, beißt in die spröde Haut und legt sich wie eine feucht-salzige Decke auf die Planken. Hartmut Noack steht an Deck der Mellum, sein Blick stoisch auf den Horizont gerichtet, das Walkie-Talkie in der Hand. Als das Kommando kommt, löst er die Bremse der Ankerwinde. Die Kette rauscht mit Getöse durch die Klüse. Rost und Schlickreste wirbeln durch die Abendluft und bilden eine flüchtige Wolke um den schmächtig wirkenden Seemann.

Seit 1984 kreuzt die Mellum durch die Nordsee. Die Crew nimmt havarierte Schiffe auf den Haken, ist ausgebildet im Kampf gegen Feuer und Eis, beseitigt Hindernisse aus den Schifffahrtswegen und – soweit möglich – Schadstoffe aus dem Meer.
Foto: Christof Mattes

Jahrzehntelang bereiste Noack die Welt, vor allem das Mittelmeer, Afrika und Asien. Jetzt steht er hier, im ungemütlichen deutschen Winter. Borkum statt Jakarta. Einer der letzten Matrosen. Teil einer aussterbenden Spezies. Denn das Berufsbild gibt es nicht mehr. Wer heute zur See fährt, macht in der Regel eine Ausbildung zum Schiffsmechaniker. Müde schwappen die Wellen an den Rumpf.

Kein Hauch von steifer Brise. "Wird ne ruhige Nacht", sagt er, zieht sich den Kragen der Jacke zurecht und entschwindet in den warmen Bauch des Schiffs. Ruhig – das heißt für die 16-köpfige Besatzung vor allem eins: kein Einsatz. Denn die Mellum ist stets auf Abruf. 365 Tage und Nächte. Sie ist auf der Nordsee das älteste Mehrzweckschiff des Bundes und bekannt als die eierlegende Wollmilchsau des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts Wilhelmshaven.

Seit 1984 kreuzt die Mellum durch die Nordsee. Die Crew nimmt havarierte Schiffe auf den Haken, ist ausgebildet im Kampf gegen Feuer und Eis, beseitigt Hindernisse aus den Schifffahrtswegen und – soweit möglich – Schadstoffe aus dem Meer. Je nach Schwere der Aufgabe finden die Einsätze gemeinsam mit anderen Behörden oder spezialisierten Unternehmen statt. Sogar ein Gaschromatograph und ein eigenes Hospital befinden sich an Bord. Tox-Meter, Defibrillator, Morphium, Leichensäcke – alles hat seinen festen Platz. Für den Fall der Fälle.

Seemannsromantik beim Essen

Zu den Routinearbeiten zählt die Wartung der rund 100 Seezeichen, die als "Fahrbahnmarkierungen" im Revier der Mellum liegen. Wie am nächsten Morgen. Sechs Mann stehen an Deck, eingemummelt in rote Overalls und orangefarbene Rettungswesten, mit Helm und Gummistiefeln. Ihre Gesichter glänzen. Von der Gischt oder vom Wind- und Wetterbalsam. "Ich bin langsam zu alt für diesen Job", grummelt der Bootsmann mit zusammengekniffenen Augen.

Der Führer des eigenen Krans auf dem Achterdeck hebt die gelbe Tonne aus dem Wasser. Mit einem Enterhaken angelt einer der Männer sie an Bord. Die untere Hälfte ist pechschwarz. Schlick, Algen und Muscheln, dicht an dicht, in inniger Umarmung. Der Rest ist Alltag: Wie beim Reifenwechsel in der Formel 1 weiß jeder, wann er was zu tun hat. Kette abmachen, neue Tonne ran und an der richtigen Stelle wieder in die Fluten setzen, gemeinsam mit dem tonnenschweren Stein, der als Anker dient. Die Pause bleibt kurz. Maschinist Jens Fanenbruck schaltet auf Vollgas.

Selbst an Deck spürt man das Vibrieren und hört das monotone Wummern, das sich unten zu einem infernalischen Dröhnen zusammenbraut. Dem Grinsen von Schützenkönig Fanenbruck tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wenn er mit Blaumann und Kopfhörer durch sein riesiges, lautes Reich aus Ventilen und Rohren geht, erinnert er an ein Kind im Spielwarenladen. Jede Hydraulikpumpe und jede Antriebsstange hört jetzt auf sein Kommando. Beziehungsweise auf Anweisungen von oben.

Dort sitzt Frank Domininghaus. "Der Alte", der gar nicht so alt ist. Nur die weißen Lachfalten um die Augen im leicht sonnengebräunten Gesicht verraten die Jahre. Aber so wird man als Käpt’n auf See nun einmal genannt. So war es mit Jürgen Prochnow in Das Boot, so ist es auf der Mellum. Per Knopfdruck bedient Domininghaus die sechs Löschkanonen an Bord, die größte kann er ausfahren bis auf 35 Meter. Maschinist Fanenbruck dreht unten Ventil Nummer sieben auf. Schon saugt die Pumpe das kalte Nordseewasser ins Boot und leitet es bis ganz nach oben. Wenige Minuten später feuert die Mellum aus allen Rohren, bis das Wort Küstenwache auf dem Rumpf hinter den Wassermassen verschwindet.

Für den dreiköpfigen Einsatztrupp beginnt der anstrengendste Teil: das Umziehen. Atemluft- flasche und Funkgerät, darüber die starren, orange- farbenen Chemikalienschutzanzüge, wie man sie aus Endzeit- filmen kennt. Jeder Körperteil ein neuer Kampf.
Foto: Christof Mattes

Zum Mittag treffen sich alle in der "Messe". So heißt der Aufenthaltsraum an Bord, in dem gelesen, gegessen und geplaudert wird. Häufig über früher – als der Seefahrt noch Romantik innewohnte. Kaum Einzelkabinen, dafür Sehnsucht nach der großen Welt. "Ich war als Kind jedes Jahr mit meinen Eltern auf Langeoog", erinnert sich Frank Domininghaus. "Da habe ich immer den Horizont betrachtet und davon geträumt, zur See zu fahren." Nach dem Abitur ging die erste Ausbildungsreise direkt nach Südamerika. Während die alten Klassenkameraden sich Häuser bauten und Familien gründeten, erkundete er noch Mexiko und Indonesien. Vor der Globalisierung, vor dem Massentourismus. "Als junger Kerl war das schon sehr spannend", sagt der 58-Jährige. Ein Schmunzeln im Mundwinkel, ein Hauch von Wehmut in den Augen.

Die Scheidungsquote an Bord ist hoch

Ein solches Leben gibt es nicht mehr. "Ich war drei Monate auf einem Containerschiff im Pazifik und im Südchinesischen Meer", erzählt Philipp Weiser, einer von vier Azubis auf der Mellum. "Länger als 24 Stunden lagen wir nirgends vor Anker, nur einmal konnten wir an Land." Denn Standzeiten sind ein immenser Kostenfaktor in der modernen Schifffahrt – ähnlich wie bei Billigfliegern. Seemannsromantik klingt anders. Für Weiser, den gebürtigen Wilhelmshavener mit den langen blonden Haaren, wäre das sowieso nichts. "Ich wollte schon immer etwas am, auf oder im Wasser machen. Aber ich bin Familienmensch, habe hier meine Freunde und Hobbys."

Die Lehre beim Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt sei genau das Richtige. Auch für die Beziehung. "Die drei Monate haben mir gereicht", sagt er mit einem gequälten Lächeln. "Das brauche ich nicht öfter." Seine älteren Kollegen kennen das. Die Scheidungsquote an Bord ist hoch. Auch das Freizeitprogramm hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Handy und Internet haben Telegramm und Postkarten abgelöst. "Früher gab es einen Koffer mit acht Videokassetten, die wurden im Hafen ab und zu getauscht", erinnert sich Domininghaus. "Wir saßen oft alle zusammen, haben gespielt oder uns Hobbys gesucht."

Wie das Team der Apollo 11 auf dem Mond: In Schutzanzügen prüft die Crew ein Fass mit Chemikalien.
Foto: Christof Mattes

Die Fotografie war es bei ihm, andere lernten Teppichknüpfen. Heute ist das nicht mehr so: Der Fitnessraum auf dem untersten Deck der Mellum ist selten ausgebucht. Kickboxer Leif-Erik Müller nutzt den Feierabend, um für seinen nächsten Kampf zu trainieren. Manchmal ist auch der Käpt’n da und reißt Kilometer auf dem Laufband ab. Die Jüngeren zocken Mario Kart auf der Konsole. Einige sitzen beisammen oder schauen Fernsehen in der Kajüte. Nicht nur die Wachgänger nutzen jede Gelegenheit zum Ausruhen. Jeder Tag an Bord hat für alle mindestens zwölf Arbeitsstunden.

Playstation statt Teppichknüpfen

Seit einer Nachrüstung der Mellum im Jahr 1995 kann die Crew auch in explosibler und toxischer Atmosphäre arbeiten. Um Routine aufzubauen, führt Domininghaus am Nachmittag einen Probealarm durch. Auf der Brücke erklärt er der Mannschaft das Szenario, das sich an einer tatsächlichen Havarie vor Borkum orientiert, bei dem die Mellum gesunkene Container mit Sonargeräten orten musste. "Ein Schiff hat bei Sturm Ladung verloren, teils mit Chemikalien. Ein treibendes Fass wurde gesichtet. Das müssen wir bergen, sichern und den eventuell austretenden Stoff bestimmen." Mit Klemmbrettern laufen die ersten Teams die Decks ab und riegeln Türen und Bullaugen mit speziellen Klappen ab. Domininghaus schaltet die Mellum in den Gasschutzbetrieb. Der Druck in der Zitadelle steigt, auf den Ohren ebenfalls. So kann kein Schadstoff ins Innere des Schiffes eindringen.

Für den dreiköpfigen Einsatztrupp beginnt der anstrengendste Teil: das Umziehen. Atemluftflasche und Funkgerät, darüber die starren, orangefarbenen Chemikalienschutzanzüge, wie man sie aus Endzeitfilmen kennt. Jeder Körperteil ein neuer Kampf. Kevin Bruns stützt seinen Ellenbogen auf einen Tisch, ein Kollege zerrt mit ganzer Kraft einen Handschuh herunter, den ersten von insgesamt dreien, die er pro Seite überziehen muss. Nach schweißtreibenden 15 Minuten sind sie startklar.

Durch die Schleuse betreten die drei Männer das Deck. Mühsam, schwerfällig, staksig. Wie das Team der Apollo 11 auf dem Mond. Langsam stapfen sie auf das Netz zu, mit dem der Kran das Fass aus dem Wasser gefischt hat – ferngesteuert von der Brücke. Sie lassen es vorsichtig herunter, gehen vor ihm in die Hocke und nehmen mit einem winzigen Spatel verschiedene Proben eines weißen Pulvers. Sie stecken die Köpfe zusammen und kommunizieren über Funk miteinander und den Kollegen im Inneren des Schiffes.

Outbreak auf der Nordsee

Einzeln gehen sie anschließend unter die Dusche, dann – gemeinsam mit den Probenkoffern – durch eine zweite Schleuse, hinter der schon die Kollegen des "Deko-Trupps" warten. Eingehüllt in eigene Schutzkleidung, prüfen sie die Kontamination ihrer Kollegen, zerren sie aus den Ganzkörperanzügen und verpacken diese in große Plastiktüten. "Ich bin ganz zufrieden. War nur schwierig, mit dem Spatel und den Pipetten zu hantieren", sagt André Engelhardt, als er 15 Minuten später mit schweißnassen Haaren beim Kaffee in der Messe sitzt. Im nächsten Jahr sollen es bei ihm Cocktails statt Filterkaffee sein. Denn Engelhardt will mit einem Kumpel die Welt umsegeln. "Das kann heiter werden, bei dem Chaoten säuft der Kahn dreimal am Tag ab", stichelt einer. Und alle grinsen.

Kapitän Domininghaus sitzt derweil wieder auf einem der zwei erhöhten Ledersessel auf der Brücke und steuert die Mellum in Richtung Ankerplatz. Vor ihm diverse Monitore und Anzeigen, von der Ladetanküberwachung bis zum Sonar. Hinter ihm jede Menge Ordner und Fachliteratur sowie eine kleine Küchenzeile. Kaffeemaschine, Wasserkocher, Salbeitee in Beuteln. Das dauerhafte Wummern des Motors geht unter im Sound des Radios. Elton John: I’m Still Standing. Das gilt auch für die Mellum. Zwar wird der Bund sie in wenigen Jahren durch ein moderneres Schiff ersetzen, doch die Tage des Mehrzweckschiffes sind sicher nicht gezählt.

Vielleicht wird sie ja noch einmal ins Ausland gehen – und die große weite Welt sehen. So wie Hartmut Noack. Früher mal. (Christian Schnohr, 11.1.2020)