In Wien sind inzwischen mehr Kinderärzte als Wahlärzte tätig als unter Kassenvertrag. Vor zehn Jahren war das noch anders.

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Wien – Es war Nacht, und ihr Sohn übergab sich so oft, dass die Eltern sich ernsthaft Sorgen machten. "Ich hatte Angst, dass er dehydriert", erinnert sich Johanna S. Sie und ihr Mann entschieden sich gegen Mitternacht, ins nahegelegene Krankenhaus zu fahren. Im Wilhelminenspital warteten sie mit einem sich weiterhin übergebenden Eineinhalbjährigen etwa zwei Stunden in der Kinderambulanz. Als sie aufgerufen wurden, war der Kleine vor Erschöpfung eingeschlafen. "Im Nachhinein würde ich nicht mehr ins Spital fahren", sagt die Mutter des inzwischen schulpflichtigen Buben, "ich habe das damals nicht richtig eingeschätzt."

Teurer Notfall

Was würde Johanna S. heute tun? Sie würde die Nacht abwarten – und dann zum Wahlarzt gehen. So wie sie es Weihnachten vor einem Jahr tat, als ihre damals zweieinhalbjährige Tochter eine Lungenentzündung hatte und die Eltern bei der Suche nach einem Arzt durch Zufall auf eine offene Gruppenpraxis im 1. Bezirk stießen. Der Termin war privat zu zahlen. "Das war natürlich teuer", sagt die zweifache Mutter. Rund 200 Euro kostete der Arztbesuch am 25. Dezember. Trotzdem würde Johanna S. es im Notfall wieder tun. Weil sie etwaigen unangenehmen Erfahrungen wie damals in der Spitalsambulanz ausweichen will. Und weil die Familie es sich eben auch leisten kann.

Sieben Stellen vakant

In der Kinder- und Jugendheilkunde boomt der Wahlarztsektor. Gab es 2010 in Wien noch 76 Wahlärzte des Faches Kinder- und Jugendheilkunde, waren es 2019 bereits 132. Die Zahl der Ärzte mit Kassenvertrag wurde damit überholt: Derzeit gibt es laut Österreichischer Gesundheitskasse 84 in der Bundeshauptstadt. Sieben Kassenvertragsstellen sind unbesetzt. Damit kommt in Wien heute auf mehr als 4000 unter 18-Jährige ein Kinderarzt auf Kasse.

Seit über einem Jahr vakant

In Niederösterreich ist die Lage mit unbesetzten Kassenverträgen noch gravierender: Dort sind ebenfalls sieben Stellen unbesetzt, dem stehen 35 unter Vertrag stehende Kassenärzte gegenüber. Wobei eine der sieben Stellen zwei Standorte betrifft, da man dort jeweils nur eine halbe Stelle mit Mindestöffnungszeiten ausgeschrieben hat. An fünf der insgesamt acht Standorte, wird seit einem Jahr oder länger kein Vertragsarzt gefunden. In St. Pölten sind zweieinhalb Stellen vakant, eine in Mödling oder Baden, Lilienfeld und Bruck an der Leitha.

Politik plant Facharztoffensive

Dass in der Versorgung mit Ärzten der Kinder- und Jugendheilkunde mit Kassenvertrag etwas im Argen liegt, ist weithin bekannt: Türkis-Grün will mit einer Facharztoffensive dagegen vorgehen. Auch die Krankenkassen bewegen sich und erhöhen Tarife für Leistungen der Kinderärzte. In Wien gibt es für die Gründung einer neuen Kinderarztordination mit Kassenvertrag zudem eine finanzielle Startförderung.

Nicole Grois, Kinderärztin im 9. Bezirk, sagt, es brauche aber noch mehr Anstrengungen, um die anstehenden Probleme zu lösen. Kinder seien im Gesundheitssystem unterversorgt, das werde sich rächen. Die Medizinerin behandelt in ihrer Praxis täglich 50 Kinder, mehr gehe nicht, "sonst leidet die Qualität". Täglich vier bis fünf Anrufern müsse ihre Sprechstundenhilfe sagen, dass sie derzeit keine neuen Patienten aufnehme.

Nicht versorgungswirksam

Neben dem erheblichen Kostenfaktor, den ein Wahlarztbesuch für Patienten mit sich bringt, kommt für das Gesamtsystem hinzu, dass Wahlärzte nicht auf einem gewissen Level versorgungswirksam arbeiten müssen. Sie können völlig frei entscheiden, wann sie offen haben und wie viele Stunden in der Woche.

So erzählt auch Johanna S., dass eine bei ihr wohnortnahe Wahlärztin der Kinderheilkunde zwar oft schnell und unkompliziert per SMS oder Anruf direkt erreichbar sei, was bei Kassenärzten oft nicht möglich ist. Allerdings sei die Ärztin zeitweise auch gar nicht greifbar. Bei einer längeren Urlaubsabwesenheit fand Familie S. eine etwas weiter weg gelegene Gruppenpraxis mit Kassenvertrag und guten Öffnungszeiten.

Arzttermin am Sonntag

Was sich zudem noch nicht so recht herumgesprochen hat: Seit rund einem Jahr gibt es in Wien ein Notdienstrad von Kinderärzten auf Kasse, die an Wochenenden und Feiertagen, je von zehn bis 15 Uhr, Patienten behandeln. Die Liste der je zwei bis vier diensthabenden Ärzte findet man unter www.aekwien.at/kinder. Sie gibt Überblick über ein Quartal.

Vielleicht finden Eltern dieses Wochenende dort im Bedarfsfall einen Ansprechpartner, statt die Ambulanz am Krankenhaus Nord aufzusuchen. Die dortige Kinderabteilung ist, wie berichtet, bis 19. Jänner gesperrt. Am Freitag hieß es vom Krankenanstaltenverbund, im Donauspital im Nachbarbezirk herrsche derzeit trotzdem "Normalbetrieb". Zehn Betten waren dort am Freitag auf der Kinderstation noch frei. (Gudrun Springer, 11.1.2020)