Im Gastkommentar skizziert Wirtschaftsforscher Karl Aiginger die Anforderungen an eine moderne Industriepolitik.

Staatliche Einflussnahme auf Firmen hat einen schlechten Ruf. Zu oft hat sie viel Steuergeld gekostet. Die Betriebe blieben weiter erfolglos und mussten letztlich doch verkauft werden. Politische Besetzungen spielen eine Rolle, siehe Casinos, ORF oder auch Spitäler. Dennoch wird es immer ein öffentliches Interesse geben, wenn Unternehmen groß sind, Technologien die Gesellschaft verändern und Arbeitsplätze betroffen sind. Jetzt kommt hinzu, dass China seine Vormachtstellung durch den Kauf von Unternehmen ausbaut und dass digitale Riesen die politische Landschaft beeinflussen.

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Die Containerschifffahrt treibt die Globalisierung voran. Diese sollte verantwortungsbewusster und mit europäischer Handschrift gestaltet werden.
Foto: Reuters / Edgar Su

Wie soll eine Industriepolitik im 21. Jahrhundert ausgestaltet sein? In einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit Dani Rodrik von der Universität Harvard wurden zehn Prinzipien entwickelt, die den gesellschaftlichen Fortschritt und die technologische Konkurrenzfähigkeit unterstützen, aber politische Eingriffe minimieren:

  • Der Industriesektor verliert vordergründig an Bedeutung, bleibt aber für Wohlfahrt und Technologieentwicklung entscheidend. Dies auch durch seine Verflechtungen mit vor- und nachgelagerten Sektoren (Wertschöpfungsketten). Er bestimmt den sektoralen Wandel und die wirtschaftliche Bedeutung einer Region.
  • Industriepolitik darf in der Wirtschaftspolitik keine Spezialabteilung sein, sondern muss Synergien zwischen Teilpolitiken beachten. Wettbewerbs-, Bildungs-, Sozial- und Umweltpolitik sind nur wirksam, wenn sie mit der Industriepolitik in einer gemeinsamen Strategie geplant werden. Die gesamte Regierung muss die Verantwortung übernehmen und demokratische Zustimmung suchen.

Falsche Interventionen

  • Ein großer Industriesektor und ein Exportüberschuss sind keine Ziele. Beides bestimmt sich aus den Ambitionen und aus den Fähigkeiten eines Landes, die durch zukunftsgerichtete Politik erweitert werden können.
  • Industriepolitik soll von zwei Alternativen immer die anspruchsvollere ("High Road") wählen. Das sind für wohlhabende Länder immer Anstrengungen bei Innovation und Ausbildung. Niedrige Kosten und laxe Sozial- und Umweltgesetze, ebenso Rohstoffreichtum können zu Entwicklungsfallen werden.
  • Der technische Fortschritt kann unterschiedlich gestaltet werden. Derzeit verläuft dieser einseitig arbeitssparend – nicht weil die Technologie das so verlangt, sondern weil Arbeit hochbesteuert und Energie- und Ressourcenverbrauch oft subventioniert wird. Eine Umlenkung des Fortschritts in Richtung Energiesparen ist somit kein neuer staatlicher Eingriff, sondern ein Verzicht auf bisherige falsche Interventionen, der Arbeitsplätze schafft und Klimapolitik unterstützt.
  • Moderne Industriepolitik soll sich an gesellschaftlichen Zielen orientieren. Sie korrigiert nicht nur bekannte Marktunvollkommenheiten, sondern soll soziale und regionale Ungleichheit verringern und den Klimawandel stoppen. Sie soll auch gesellschaftliche Freiheiten ausweiten. Die Ausrichtung der länderspezifischen Empfehlungen der EU und der OECD sollte sich stärker an den UN-Nachhaltigkeitszielen orientieren.
  • Europäische Industriepolitik hat lange darunter gelitten, dass manche Länder vom überlegenen Wissen des Staates ausgegangen sind und eine andere Gruppe die unfehlbaren Entscheidungen privater Firmen betont hat. Industriepolitik ist aber ein Suchprozess mit beschränktem Wissen des Staates und interessengebundenen Informationen privater Firmen.
    Die Politik muss danach trachten, Signale zu erkennen, wie gesellschaftliche Ziele erreicht werden können. Dazu sind Dialoge notwendig, bei denen die Wirtschaftspolitik Firmen und gesellschaftliche Gruppen einbezieht, aber auch weiß, dass diese aus Eigeninteresse nicht alle Informationen zur Verfügung stellen.
  • Asiatische Länder zeigen, wie eine Industrie mit einem starken staatlichen Einfluss auch erfolgreich sein kann. Nicht alle Erfahrungen können übertragen werden, nicht alle Länder waren erfolgreich. Die Vorzeigeländer haben versucht zu lernen. Sie haben in Sonderzonen unterschiedliche Modelle ausprobiert und korrigieren die Ziele in jeder Planungsperiode. China 2025 definiert die Spitzenposition in zehn Technologien als Ziel; gleichzeitig wird mit der Mitgliedschaft in der WTO die interne Liberalisierung beschleunigt.

Antwort auf Populismus

  • Industriepolitik ist eine notwendige und wirksame Antwort auf Populismus. Seine wirtschaftlichen Wurzeln liegen in der schwachen Dynamik der Wirtschaft und in Jobverlusten in traditionellen Sektoren und "alten" Industriegebieten. Die Probleme können aber nicht gelöst werden, indem Grenzen geschlossen und alte Strukturen wiederhergestellt werden. Es bedarf einer Vision, wohin man will und mit welchen Instrumenten.
  • Internationale Foren, initiiert von der EU-Kommission, könnten – parallel zu den Umweltforen – die Industrieentwicklung begleiten und helfen, die Globalisierung verantwortungsbewusst und mit europäischer Handschrift zu gestalten. Globalisierung bringt Gewinner und Verlierer. Die Betroffenen können befähigt werden, auf die Gewinnerseite zu wechseln. Sollte eine Nachhaltigkeitsstrategie auch Zölle auf Importe aus Ländern, die die Bekämpfung des Klimawandels ablehnen, benötigen, so müssen diese international beurteilt werden, um Protektionismus zu vermeiden.

Zusammenfassend könnte man Industriepolitik beschreiben als "systemischen Suchprozess, den industriellen Sektor zu unterstützen und an gesellschaftlichen Zielen zu orientieren". Struktureller Wandel braucht neben einer vorausschauenden Innovations-, Regional- und Bildungspolitik auch den Dialog mit Sozialpartnern, Bevölkerung und NGOs, damit Partikularinteressen und Populismus zurückgedrängt werden. (12.1.2020)