Samuel Chukwu wartet in seinem kleinen Schuhladen auf Kunden. Der liegt am Railway-Ogbete-Markt inmitten der Provinzhauptstadt Enugu im Südosten Nigerias. Von draußen dröhnt Musik herein, werben hier doch hunderte Händler um Kundschaft. Chukwu ist seit mehr als 30 Jahren dabei. Selbst wenn das Geschäft manchmal zäh sei, kann er sich nichts anderes vorstellen. "Wir können doch nicht alle für die Regierung arbeiten oder zum Militär gehen." Dem Business helfen könnte jedoch eines: die Unabhängigkeit vom Rest Nigerias.

Dafür haben die Igbos, die im Südosten die Mehrheit bilden, schon einmal gekämpft. Vorausgegangen waren dem Biafra-Krieg zwei Staatsstreiche und Pogrome. Die Ursachen dafür hatten ihre Wurzeln bereits in der Kolonialzeit, die im Jahr 1960 endete. Großbritannien hatte mehr als 250 ethnische Gruppen, die wenig miteinander gemeinsam hatten, zu Nigeria zusammengefügt. Bis heute sind die großen Volksgruppen im Norden die Haussa und Fulani, im Westen die Yoruba und im Südosten die Igbos. Kämpfe um Vormachtstellung und Ressourcenverteilung waren vorprogrammiert. Am 30. Mai 1967 erklärte der damalige Militärgouverneur der Ostregion, Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu, den Südosten für unabhängig. Eine Woche später begann der Krieg.

Bewegungen wie die "Indigenous People of Biafra" fordern auch nach fünf Jahrzehnten noch radikal die Unabhängigkeit der Region im Südosten Nigerias.
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Daran erinnert sich Goodluck Mbamaonyeukwu Nwamarah gut. "Dreimal habe ich mich bei der Armee gemeldet. Dreimal wurde ich nicht genommen, weil ich zu klein war", klingt der frühere Mitarbeiter der Universität von Nigeria in Nsukka (UNN) noch immer ein wenig enttäuscht. Schließlich konnte er für die Einheit Forschung und Produktion (RAP) arbeiten, die Waffen, Kanonen und gepanzerte Fahrzeuge herstellte. Die junge Republik, die nur von einer Handvoll Staaten anerkannt wurde, war auf einen Krieg nicht vorbereitet.

Kein Sieger, keine Besiegten

Der nigerianischen Armee gelang es deshalb, immer größere Gebiete einzunehmen. Vor allem schnitt sie Biafra von der Außenwelt ab und hungerte die Bewohner aus. "Es waren unmenschliche Bedingungen", sagt Nwamarah. Die Bilder der bis auf die Knochen abgemagerten Kinder, die an Hungerödemen litten, gingen um die Welt. Dutzende kirchliche Hilfswerke wie die Caritas schlossen sich 1968 deshalb zu "Joint Church Aid" zusammen und organisierten Luftbrücken, um die Menschen mit Maismehl und Milchpulver zu versorgen. Bis zum Kriegsende am 15. Jänner 1970 starben durch die Hungersnot und die Bombardierungen zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen. Nach dem Krieg gab der damalige Staatschef Yakubu Gowon den Slogan aus: kein Sieger, keine Besiegten. Biafra wurde totgeschwiegen.

Nach Einschätzung der Historikerin Ngozika Anthonia Obi-Ani sind seitdem aber auch die Ursachen, die zum Krieg führten, nicht aufgearbeitet worden. "Es gibt keine wirkliche Gleichberechtigung der verschiedenen Regionen", sagt sie. Beispielsweise würden Ämter nicht nach transparenten Kriterien vergeben werden. Studierende aus dem Südosten müssten bei Bewerbungen sehr viel bessere Leistungen erbringen als jene aus dem Norden.

Radikale Forderungen

Die Marginalisierung durch die Zentralregierung unter Muhammadu Buhari in Abuja, von der in Enugu und Nsukka immer wieder die Rede ist, lässt sich zumindest durch Zahlen nicht belegen. Seit dem Bürgerkrieg war zwar nie ein Igbo Präsident. Doch im aktuellen Entwicklungsindex zu Nigeria aus dem Jahr 2015 schnitten die Regionen Südost und Südsüd in den Bereichen Geschlechtergleichheit, Armutsbekämpfung und Schulbildung weitaus besser ab als der arme Norden. Dennoch hält sich das Gefühl von Benachteiligung hartnäckig.

Das bringt auch Bewegungen wie IPOB – Indigenous People of Biafra – Zulauf. Radikal fordert sie die Unabhängigkeit von Nigeria. Anführer Nnamdi Kanu erfährt von seinen Anhängern mitunter eine fast religiöse Verehrung. Seine Gegner bezeichnen ihn als Demagogen, der Ängste schürt und vor allem gegen die Haussa im Norden hetzt. Viel ist in diesen Tagen von Kanu aber nicht zu hören. Die Regierung hat IPOB bereits 2017 zur Terrororganisation erklärt. Kanu hält sich im Ausland auf.

In Enugu hat auch Schuhhändler Samuel Chukwu ein offenes Ohr für solche Forderungen. "Halleluja. Lieber heute als morgen", ruft er aus. Ein bisschen später kommt er jedoch ins Grübeln. "Einen neuen Krieg darf es nicht geben", sagt Chukwu, der den Biafra-Krieg als Kind miterlebt hat. Dafür tritt auch Goodluck Mbamaonyeukwu Nwamarah ein, so begeistert er damals auch die Idee der Unabhängigkeit unterstützte. "Das möchte niemand erleben." (Katrin Gänsler aus Enugu und Nsukka, 14.1.2020)