Mit dem Koalitionspakt sei in der türkis-grünen Debatte nicht das letzte Wort gesprochen, sagt Minister Anschober: "Für alles, was die ÖVP bisher nicht akzeptiert hat, werde ich weiterkämpfen."

Foto: Der Standard / Matthias Cremer

Rudolf Anschober ist Selbstironie nicht fremd. "Vorsicht, wenn ein Politiker drei Minuten verspricht!", warnt der Grüne, als er vor dem Interview, das DER STANDARD gemeinsam mit drei weiteren Zeitungen führt, ein Eingangsstatement in ebendieser Länge vorschlägt. Statt drei Minuten spricht der Neo-Minister dann tatsächlich zwölf, doch sein Ressort umfasst ja auch viele Themen: Sozialpolitik, Gesundheit, Pflege, Lebensmittelsicherheit, Konsumentenschutz, Tierschutz, aber nicht mehr die Arbeitsmarktpolitik. Anschober zählt Klimaschutz ebenso dazu, wenn auch im übertragenen Sinn. Sein Haus wolle das gesellschaftliche Klima verbessern, sagt er, zumal in den letzten Jahren gerne suggeriert worden sei: "Geht es dem anderen schlechter, geht es dir besser."

STANDARD: ÖVP und Grüne haben monatelang verhandelt. Doch als der Pakt endlich fertig war, kamen Sie und sagten, die Verhandlungen gingen nun erst richtig los. Sind Sie derart unglücklich mit dem Ergebnis?

Anschober: Auch für mich gilt das Regierungsübereinkommen, aber mit einigen Bereichen bin ich nicht zufrieden. Das gilt etwa für das Migrationskapitel: Für alles, was die ÖVP hier nicht akzeptiert hat, werde ich weiterkämpfen – etwa für einen Abschiebeschutz von Schülerinnen, Schülern und Studierenden, die in einem Asylverfahren stehen. Da habe ich meine Haltung nicht in der Garderobe zum Ministerium abgegeben. In meinem Bereich bin ich mit dem Pakt aber recht zufrieden, gerade das Pflegekapitel hat viel Substanz. Für die Regierung handelt es sich dabei um das Schwerpunktthema: In 50 Jahren wird fast jede zweite Österreicherin und jeder zweite Österreicher über 65 Jahre alt sein.

STANDARD: Ob deshalb eine eigene Pflegeversicherung eingeführt wird, beantwortet der Pakt aber nicht eindeutig.

Anschober: Eine klassische Pflegeversicherung wie in Deutschland wird es bei uns nicht geben. Die Finanzierung wird zum größten Teil aus öffentlichem Geld bestritten werden – das ist der große Unterschied. Ansonsten kann ich nichts ausschließen, da gibt’s hundert Optionen. Ich werde deshalb rasch die vereinbarte Taskforce Pflege aufsetzen, um gemeinsam mit Ländern, Gemeinden und Experten eine Politik aus einem Guss zu schaffen. Zum Auftakt starten wir im Februar und März einen großen Österreich-Dialog, um mit Betroffenen, Pflegekräften, NGOs zu sprechen. Ich will dabei lernen: Wo zwickt’s, wo krankt’s?

STANDARD: Welche Leistung Betroffene für ihr Geld bekommen, hängt derzeit vom Wohnort ab. Wollen Sie das ändern?

Anschober preist die Altenpflege als "einen der wichtigsten und großartigsten Berufe der Welt" an – wenn da nicht "die dramatische Arbeitsbelastung" wäre.
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Anschober: Ja. Das erklärte Ziel ist, eine mögliche effiziente und gemeinsame Struktur zu erreichen. Wir müssen aber auch etwas für das Berufsbild der Betreuungskräfte tun. Ich halte die Altenpflege für einen der wichtigsten und großartigsten Berufe der Welt, doch in dem Pflegeheim, das ich am Montag gemeinsam mit Kanzler Sebastian Kurz besucht habe, war viel von einer dramatischen Arbeitsbelastung die Rede. Da braucht es nicht nur mehr Pflegekräfte, sondern auch mehr Wertschätzung. Das Gleiche gilt für die betreuten Menschen. Ich liebe Südeuropa: Dort ist die Stellung der Älteren in der Gesellschaft viel höher.

STANDARD: Vielen Pflegekräften soll, sofern ihre Kinder im Ausland leben, auf Betreiben der ÖVP aber die Familienbeihilfe gekürzt werden. Wollen Sie das noch verhindern?

Anschober: Das werden wir uns anschauen.

STANDARD: Klingt nicht sehr verbindlich.

Anschober: Auf den Tisch zu hauen würde sich heute schick machen, ist aber nicht mein Stil. Ich will nicht in drei Monaten zurückrudern müssen. Ich will in der Sache firm sein, und dafür brauche ich Zeit.

STANDARD: Die Alterung kommt dem Staat gerade auch deshalb teuer, weil die Österreicher vergleichsweise kränklich sind.

Anschober: Der Anteil der Jahre, die wir gesund leben, muss sich erhöhen: Prävention ist der zentrale Schlüssel. Ich hatte ja selbst in meiner Karriere eine Situation, wo ich durch ein Tal wanderte. Damals habe ich gelernt, dass ich im Leben eine Balance brauche: Meine Laufeinheiten, zehn Minuten Qigong in der Früh, einmal Kochen in der Woche sind für mich ein Lebenselixier. Wir müssen das Bewusstsein stiften, dass es einen Ausgleich braucht, da gibt es sehr individuelle Ansprüche.

STANDARD: Muss man die Leute nicht auch mit Anreizen drängen, gesünder zu leben?

Anschober: Dem wohlhabenden Teil der Bevölkerung werden Anreize egal sein – für den anderen Teil aber, dem es eh nicht so gut geht, fallen diese doppelt und dreifach ins Gewicht. Die Lösung liegt im Kopf und nicht in der Geldbörse.

STANDARD: Also keine Zuckersteuer?

Anschober: Natürlich muss Zucker reduziert werden. Aber ob Steuern das richtige Mittel dafür sind, bezweifle ich – weil wir da oft auch die Falschen treffen. Ich halte nichts vom erhobenen Zeigefinger. Ein lustvolles Leben ist eine Qualität, das will ich den Leuten nicht madig machen. Das Geheimnis ist das Bewusstsein, auf finanziellen Druck hingegen vertraue ich wenig.

STANDARD: In der Umweltpolitik sind die Grünen aber nicht so gnädig, da darf es durchaus finanzieller Druck sein.

Anschober: Das ist richtig, da haben sich freiwillige Vereinbarungen als Fehlkonstruktion erwiesen – siehe etwa den Anstieg von Einwegverpackungen. Da war aber die Wirtschaft als Gesamtes gefordert – und nicht der Einzelne, dem es im Fall der Gesundheit nicht um ökonomische Interessen geht, sondern um das eigene Leben.

Anschober will erst alle Fakten studieren, bevor er über die Hacklerregelung entscheidet: "Mich nervt immer, wenn Politikerinnen und Politiker glauben, sie wissen alles."
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STANDARD: Apropos Anreize: Die Wiedereinführung der Hacklerregelung, einer günstigen Frühpensionsvariante, stößt auf massive Kritik von Experten. Sie zögern dennoch bei der Abschaffung und wollen erst auf die nächste finanzielle Prognose warten. Sollte man Unsinn nicht prinzipiell abschaffen, egal ob gerade Geld da ist oder nicht?

Anschober: Diese sogenannte Hacklerregelung verursacht in diese Legislaturperiode Zusatzkosten von mehr als 600 Millionen Euro. Dennoch will ich erst hören, was die Alterssicherungskommission dazu zu sagen hat, etwa über die profitierenden Gruppen.

STANDARD: Kennt man die nicht schon? Das sind Männer mit recht hohen Pensionen.

Anschober: Das ist die Prognose, aber ich will eine Fachexpertise auf dem Tisch haben. Warum gibt es die Kommission, wenn ich nicht auf sie höre? Mich nervt immer, wenn Politikerinnen und Politiker glauben, sie wissen alles – denn hinterher stellt sich vieles als Seifenblase heraus. Ganz anders als die türkis-blaue Vorvorgängerregierung werden wir auch wieder die Sozialpartnerschaft schätzen, allerdings erweitert um die Vertreter der Zivilgesellschaft.

STANDARD: Es gibt auch Kritik am Pensionssplitting, laut dem Eltern einen Teil ihrer Pensionsansprüche teilen sollen, damit die Zeit zu Hause bei den Kindern quasi abgegolten wird: Dies sei ein Anreiz für Frauen, erst recht nicht voll zu arbeiten.

Anschober: Das Regierungsprogramm bietet hier in Wahrheit keine Festlegung, ob das Splitting automatisch oder freiwillig erfolgen soll – wir Grünen wollten Freiwilligkeit. Da müssen wir uns erst einigen. Priorität dabei hat: Wir müssen die Zahl von Frauen und Kindern in Armut drastisch verkleinern.

STANDARD: Der Pakt verrät auch nicht, wie die Sozialhilfe aussehen soll, nachdem der Verfassungsgerichtshof zentrale Verschärfungen der türkis-blauen Reform gekippt hat.

Anschober: Der Entscheid kam, als wir bei den Verhandlungen bereits in der Schlussphase waren – die Lösung dieses Problems ist sich nicht mehr ausgegangen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder legt ein neues Grundgesetz ein Mindestmaß an gemeinsamen Regeln fest – oder die Länder dürfen ganz frei entscheiden.

STANDARD: Kanzler Kurz hat bereits für die zweite Variante plädiert.

Anschober: Mein Lieblingsweg geht auch in diese Richtung, mit angesprochenen Schwerpunkten wie der Bekämpfung der Kinderarmut. Doch auch hier warte ich erst eine Analyse der Experten aus meinem Haus ab, danach wird es in der Regierung viel zu besprechen geben. Das wird nicht nur in diesem Fall so sein: Unter Rot-Schwarz gab es den Eindruck der Blockade, unter Türkis-Blau jenen des Drüberfahrens – nun werden die ÖVP und wir eine dritte, ganz neue Form der Koalition etablieren. (Gerald John, 14.1.2020)