Natürlich ist es feiner, wenn die Nächte wieder kürzer und die Tage wieder länger werden. Trotzdem werden mir dann, wenn es um halb sieben nicht mehr stockdunkel ist und man beim Läuten des Weckers nicht mehr das Gefühl hat, in die Polarnacht gestoßen zu werden, diese Läufe fehlen. Ein bisserl zumindest.

Weil der Wechsel von Schwarz zu Grau doch eine eigene Atmosphäre, eine eigene Magie hat. Zumindest dann, wenn man um diese Zeit freiwillig rausgeht: Dass Frühschichtler oder Fernpendlerinnen das anders, ganz anders sehen, ist eh klar.

Foto: thomas rottenberg

Nur: Mich zwingt niemand. Das macht den Unterschied aus: Können, aber nicht müssen, ist ein Privileg. Und das macht vieles leichter: Wenn es mir wirklich zu zaach ist, stehe ich halt einfach nicht auf. Lasse den Lauf entfallen. Hole ihn vielleicht nach der Arbeit oder in der Mittagspause nach. Oder auch nicht.

Auch wenn dann im Trainingsplan statt grünen oder gelben Segmenten ein paar rote Einträge stehen und Harald, der Coach, die Augenbraue hochzieht, ist mir und ihm und jedem klar: Es geht genau um gar nix. Selber Schuld, wer sich da quält oder kasteit.

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Nur gibt es da eben auch das Andererseits. Und andererseits ist super. Weil da – Andererseits eins – eben im Winter vor Sonnenaufgang diese besondere Stimmung in der Stadtluft liegt.

Weil es – Andererseits zwei – jedes Mal wieder faszinierend ist zu spüren, wie zuerst der Körper und dann auch der Kopf von "Alter, bist wo ang'rennt?" auf "Alter, ist das geil!" umschaltet.

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Weil – Andererseits drei – bei Tag und Blümchenwetter jeder nach und in Schönbrunn herumrennen kann, während einem – Andererseits vier – der Schlosspark jetzt beinahe allein gehört.

Und weil sich – Andererseits fünf – der Tag anders anfühlt, wenn man den Nachbarn beim Heimkommen rasch frische Croissants zuschupfen kann, bevor die die Kinder in die Schule bringen. Und man kurz darauf im Büro in lauter schlaftrunkene Gesichter schaut – während man selbst schon etwas geleistet hat. Egal wie blunzen das für das Weltgeschehen ist.

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Obwohl ein bisserl Druck natürlich schon auch motiviert. Mich zumindest. So schön der Schlosspark ist, so malerisch und verträumt der winterliche Morgennebel sein mag, wäre mir der Park dann zum Allein-darin-kreuz-und-quer-Rennen dann doch bald zu gleichförmig: Im Parkett, also zwischen dem großen Brunnen und dem Schloss, rennt man wie dereinst Sisi rannte und Franzl promenierte (zumindest habe ich bisher nirgendwo gelesen, dass auch der Kaiser ein Läufer gewesen wäre). Okay.

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Die Gerade parallel zum Schloss – also vom Meidlinger zum Hietzinger Tor – ist genau einen Kilometer lang. Auch okay. Und im barocken Park hat man dann auch irgendwann alle Alleen, alle Diagonalen, die kleinen Lust- und Irrgärten und die beinahe echten antiken Obelisken, Grotten und Monumente durch. Schön – und mit "Ahs", "Ohs" und "How scenic" von Bekannten aus der ganzen Welt bedacht. Aber auf Dauer nicht abend- oder eben morgenfüllend.

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Darum laufe ich in Schönbrunn, wenn ich hier (wie fast immer) allein unterwegs bin, immer mit Programm. Am allerliebsten mit einem, das wehtut und quält. Zumindest dann, wenn man es nicht bloß halbherzig durchzieht.

Die Schönbrunn-Klassiker schlechthin sind da natürlich die Wege hinauf zur Gloriette. Einmal geht. Zweimal ist zäh. Dreimal beißt schon. Ich kenne aber Leute – und Gruppen –, die hier zehnmal rauf und runter rennen. Und zwar immer voll.

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Wobei "voll" zwei Lesarten hat. Entweder jedes Mal mit allem, was geht – da wird man dann von Mal zu Mal langsamer.

Oder aber "voll" im Sinne von gleichmäßig: Beim ersten so schnell wie beim letzten Mal – aber so, dass man bei den letzten paar Durchgängen gerade nicht speibt. So lernt man nicht nur die eigenen Kräfte einzuteilen, sondern auch, dass dann, wenn man glaubt, dass jetzt wirklich nix mehr geht, eben doch noch was drin ist.

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Das geht aber auch auf eine (okay: hunderte) andere Art. Eine meiner liebsten Hassvarianten dazu schreibt mir Harald Fritz derzeit besonders gern ins Aufgabenheft: "20/1/1" nämlich.

20/1/1 ist böse. Richtig böse: Nach 10 oder 15 Minuten Einlaufen kommen dann 20 Wiederholungen von je einer Minute Vollgas und einer Minute zügigem Laufen. Intervalle – in ihrer heftigen Spielart. Fragen Sie mich bitte nicht, wieso ich mir das antue.

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So wie bei den vorher beschriebenen Hügel-Gleichmäßigkeits-Voll-Varianten sollen auch beim Intervalltraining alle Tempoeinheiten gleich schnell oder (wenn Hügel dazwischenkommen) zumindest gleich intensiv sein: Beim dritten Mal lacht man noch, beim 12. beißt man die Zähne zusammen und beim 19. würde man dann gerne weinen. Oder sterben.

Oder den erschlagen, der das verordnet hat: #hateyourcoach. Aber: Wer zwingt mich? Seltsamerweise ziehe ich das Ding dann aber doch durch. Und noch seltsamererweise funktioniert es auch. Meistens.

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Wozu das gut sein soll? Zum einen, damit latent stinkfaule Leute wie ich nicht nach einer kurzen Parkrunde auf einen Kaffee zum nächsten Schnellbäcker in einer U-Bahn-Station gehen. Aber auch um immer wieder aufs Neue zu lernen. Zu lernen, dass in Wirklichkeit viel mehr geht, als man selbst glauben würde.

Und zu kapieren: Wenn das schon bei einer Banalität wie der Rennerei in einer barocken Kulisse funktioniert, dann schaffe ich wohl auch in 1.000 anderen Situationen und Lebenslagen mehr, als ich mir zutrauen würde. Und das gilt nicht nur für mich.

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Und dann gibt es noch den dritten Grund. Den wichtigsten. Den mit der Belohnung. Weil solche Läufe stets aufs Neue beweisen, dass es sich immer auszahlt, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Weil langsam und schleichend, aber unaufhaltsam der Tag beginnt. Auch wenn man das zunächst vielleicht gar nicht wirklich mitbekommt.

Bis es dann plötzlich hell ist. Und man – bumm! – schlagartig erkennt, dass man gerade an einem der schönsten Orte der Welt ist.

Und das Leben so einfach schön sein kann.

Weil solche Augenblicke nichts kosten – und man sie für kein Geld der Welt kaufen kann.

Man muss dafür lediglich eines tun: aufstehen – und sich im Dunkeln auf den Weg machen.

Der Schönbrunner Schlosspark ist ab 6.30 Uhr geöffnet.

(Thomas Rottenberg, 15.1.2020)

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