Weil sie in Wien unter anderem bei einer Rede am 1. Mai über die Lage der Kurden sprach, wurde Laçin Terrorpropaganda vorgeworfen. Am vergangenen Wochenende durfte sie aus der Türkei ausreisen.

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Als die Wienerin Mülkiye Laçin das letzte Mal in dem Kaffeehaus war, in dem sie den STANDARD trifft, waren da noch keine Bagger. Vor einem halben Jahr wurde die Pädagogin wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda bei einem Türkei-Urlaub festgenommen. Sie durfte nicht mehr aus dem Land – bis zum vergangenen Wochenende. Vor ihr steht eine Melange, die zweite, seit sie wieder in Wien ist. Die erste hatte sie am Sonntag am Flughafen Schwechat, drei Tage nachdem ihr das türkische Gericht überraschend die Ausreise erlaubt hatte – auch wenn ihr Verfahren weiterläuft.

STANDARD: Sie sagten bei Ihrer Ankunft in Wien, Sie würden irgendwann in die Türkei zurückkehren. Haben Sie schon einen Flug gebucht?

Laçin: Nein, das habe ich auch noch nicht vor. Erst wenn wir irgendwann Demokratie in der Türkei haben, werde ich dorthin fliegen. Mein Land werde ich nicht aufgeben.

STANDARD: Haben Sie eine Idee, wie die türkischen Behörden auf Sie kamen?

Laçin: Viele Kurdinnen und Kurden werden ein Jahr, zwei Jahre ohne Aussage in der Türkei festgehalten. Und auch bei österreichischen Veranstaltungen hat man gemerkt, dass türkische Geheimdienste stark und gut organisiert sind. Ich nehme an, dass sie meine Aktivitäten schon lange gesammelt haben. Viele Menschen bekommen auch Geld für ihre Mitarbeit. Ich denke – und das ist nur meine Vermutung, eine Fantasie –, dass diese Menschen Aufgaben bekommen, etwa die sozialen Medien von bestimmten Personen zu beobachten.

STANDARD: Haben Sie Ihren Akt gesehen?

Laçin: Als sie mich festgenommen haben, haben Sie mir gezeigt, was ich gepostet habe, etwa kurdische Sätze auf Facebook. Auch was ich am 1. Mai geredet habe und ein Foto von einem Theaterspiel zeigten sie mir, das hatten sie alles ausgedruckt.

STANDARD: Tunceli gilt als linke Hochburg in der Türkei. War Ihnen das Risiko bewusst, als Sie dort hingingen und ein Haus bauten?

Laçin: Ich bin geborene Kurdin und Alevitin, ich komme aus diesem Gebiet. Wenn man ein Volk ständig unterdrückt sieht, baut man eine andere Beziehung dazu auf, egal ob das Kurden oder einem anderen Volk passiert. Eine starke Beziehung. Die hat mich dort hingezogen und ausgelöst, dass ich dort ein Haus baute, um mehr Zeit dort zu verbringen. Mir war schon auch bewusst, dass es gefährlich ist. Als ich auf dem Hinweg in den Flieger eingestiegen bin, war da eine Seite mit einem gutem Gefühl, aber eine Seite war Angst. Gut, ich bin Kurdin, ich habe für Menschenrechte, Frauen und Kinder gekämpft, dachte ich. Mehr habe ich nicht gemacht, mehr ist nicht passiert, dachte ich. Manchmal ist man naiv.

STANDARD: Sie saßen sechseinhalb Monate in dem Dorf fest. Wie war es dort?

Laçin: Ich habe meine Kindheit und Jugend lang dort gelebt. Und wenn ich an bestimmten Stellen war, erinnerte ich mich an Ereignisse. Dann freut man sich. Auf der anderen Seite weißt du aber auch, dass du immer unter Beobachtung bist. So war es bis zum 17. Juli. Da sind sie mit einem Einsatz in das Dorf gekommen und haben nach mir gesucht. Die erste Person, der sie begegnet sind, war ich. Sie sagten, sie suchen eine Frau Laçin. Ich habe gesagt, ich bin Laçin. Dann haben sie mein Zimmer durchsucht und gesagt: "Wir nehmen Sie mit, denn es ist ein Befehl."

STANDARD: Nach 24 Stunden durften Sie aus der Haft, mussten aber im Land bleiben.

Laçin: Dann war ich in meinem Haus, es war halb fertig. Bis Oktober ist das gegangen, es war nicht so kalt. Ich wusste, es gibt einen Akt, und der muss bearbeitet werden. Dass ich irgendwann zum Gericht gehen und eine Aussage machen werde. Normalerweise sollte es so laufen. Nach drei Monaten habe ich meinen Anwalt gebeten, nach meinem Akt zu sehen, er bekam keine Information. Diese Unklarheit, Ungewissheit hat mich belastet. Du weißt nicht, was am nächsten Tag passiert. Auf was kommen sie? Was suchen sie? Kommen sie am nächsten Tag und nehmen dich mit? Mit solchen Fragen war ich jeden Tag konfrontiert. Nach drei Monaten habe ich mit dem Richter gesprochen, ihm gesagt, dass es ein Fehler ist, dass sie mich hier aufhalten. "Auch wenn Sie den Akt zehn Jahre lang offen lassen und nach Informationen suchen, werden Sie nicht auf mehr kommen", habe ich gesagt. Er hat mir zugehört. Und sagte, er hat nur seine Aufgabe gemacht.

STANDARD: Nach drei Monaten gründete sich ein Solidaritätskomitee. Warum so spät?

Laçin: Ich wusste, es muss in Österreich was passieren. Und dann hat mein Betriebsrat vorgeschlagen, sich mit meinen beiden Kindern und meinen Kolleginnen zu treffen, so haben sie ein Solidaritätskomitee gebildet. Was da gemacht wurde, von der Gewerkschaft bis zur Arbeiterkammer, von meiner Schule, meinen Kindern und Freundinnen, auch von Journalistinnen, war, dass sie präsent waren. Ich bin dankbar, dass sie Augen und Ohren offen hatten. Dadurch hat sich in der Türkei etwas bewegt. Ich bekam eine dreiseitige Anklageschrift.

STANDARD: Sie haben das Außenministerium aber auch kritisiert. Haben Sie sich von Österreich im Stich gelassen gefühlt?

Laçin: Am Anfang schon. Sie haben mich zwar regelmäßig angerufen und gefragt, wie es mir geht, aber nach zwei-, dreimal war die Antwort eben: "Na ja, es geht mir nicht gut. Ich möchte wissen, wann mein Prozess ist, wann ich fliegen darf, ob ich ins Gefängnis komme." Doch sie sagten, sie dürften sich nicht in die türkische Justiz einmischen. Doch natürlich darf man sich einmischen und sagen: "Diese Frau ist schon über 30 Jahre in Wien, sie hat nichts verbrochen in unserem Land." Aber das war am Anfang so. Bei meinem Prozess dann war der Botschaftsvertreter persönlich anwesend, sie haben gemacht, was gemacht werden soll, und dafür bin ich dankbar.

STANDARD: Was ist mit jenen inhaftierten und festgehaltenen Menschen, die kein Solidaritätskomitee haben?

Laçin: Ich hatte Glück, dass so viele Menschen bei mir waren und mich unterstützt haben. Doch es gibt Hunderte, die keine Ressourcen haben, keine Wege. Das macht traurig. Ich wünsche mir, dass durch meinen Fall die türkischen Behörden auf die Idee kommen, dass so nicht mit Menschen umgegangen werden kann. Weil das, was ich und die anderen gemacht haben, das fällt unter Meinungsfreiheit. Wir haben unsere Meinung gesagt, ein paar Sachen gepostet oder eine Reaktion zu einem bestimmten Fall gezeigt, das ist ganz normal.

STANDARD: Wie geht es mit Ihnen weiter, werden Sie am 1. Mai eine Rede halten? Haben Sie vor, wieder zu unterrichten?

Laçin: Ich bin mein Leben lang für Gerechtigkeit eingetreten, wenn es notwendig war. Auch in Zukunft werde ich meinen Mund nicht halten. Ich werde nicht sagen: "Gut, dass mich das nichts angeht". Und ich will wieder in meinen Job, ich habe die Kinder auch ur vermisst, meinen Alltag vermisst. Ich habe bis März einen Sabbatical-Vertrag unterschrieben, aber es kann sein, dass ich schon Anfang Februar wieder anfange.

STANDARD: Und was passiert mit dem Haus in der Türkei?

Laçin: Ich habe es zugesperrt. Wann ich wieder dort bin, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass Verbesserungen in der Türkei kommen, dass es ein demokratisches Land wird, in dem Menschen miteinander leben können. Irgendwann bestimmt. (Gabriele Scherndl, 14.1.2020)