Den Hass im Internet an der Wurzel packen: Richard Gutjahr.

Foto: Imago/Sachelle Babbar

"He Gutjahr, du perverse öffentlich-rechtliche Drecksau, warum lebst du vollgeschissener Gutmensch noch. Ich möchte nicht hier leben in dem Bewusstsein, dass so eine verkommene Drecksau auch hier lebt. Verrecke endlich." Oder: "Wenn der Tag der Abrechnung kommt, wird dir das nichts nutzen, wenn dein Kadaver von einer Axt gespalten im Rinnstein liegt."

Der 14. Juli 2016 hat das Leben vieler Menschen verändert. Auch jenes von Richard Gutjahr. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Der deutsche Journalist des Bayerischen Rundfunks war auf Urlaub in Nizza, als ein Attentäter mit einem Lkw durch eine Menschenmenge raste. 86 Menschen starben. Gutjahr filmte das Grauen als Augenzeuge von seinem Hotelzimmer aus, berichtete und stellte das Material dem Westdeutschen Rundfunk zur Verfügung.

Acht Tage später, am 22. Juli 2016, war Gutjahr in München, als ein 18-jähriger Schüler am und im Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen tötete. Und der heute 46-Jährige tat damals wieder das, was Journalisten tun: Er berichtete – unter anderem live für die ARD-Tagesschau.

Wenn man so will, war Gutjahr zweimal zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder eben nicht, so sahen es viele Verschwörungstheoretiker: Sie unterstellten ihm, in die zwei Terroranschläge involviert zu sein. Seitdem blühen die wildesten Spekulationen, und Gutjahr wird von Hassnachrichten übersät, nicht wenige davon gehen gegen Leib und Leben. "Ich habe in den letzten drei Jahren so gut wie nichts anderes gemacht", sagt Gutjahr im Gespräch mit dem STANDARD, und meint seine juristischen Auseinandersetzungen: "Insgesamt sind es zwei oder drei Dutzend."

Attacken von rechts und links

Die Angriffe kamen mehrheitlich von rechts, aber auch von links: "Die Grenzen sind fließend. Ich würde es zum größten Teil dem rechten Milieu zuordnen, aber die rechtsextremen Positionen gehen über in linksextreme Hetze." Gutjahr wurde mit seiner Familie zur Projektionsfläche kruder Weltanschauungen: "Ich bin Journalist, Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der für viele als Staatsfunk verunglimpft wird, meine Frau ist Jüdin und kommt aus Israel. Ich habe in Amerika studiert und für CNN gearbeitet."

Mehr braucht es nicht, um die Hetzer zu inspirieren: "Wann immer es zum Beispiel um Verschwörungstheorien der Juden ging, wurden auch amerikanische Kräfte genannt. Hier haben sich Nazis und linke Friedensaktivisten die Hand gegeben."

Seine Prozesse sind eine Odyssee durch die Instanzen und ein Kampf gegen die Widerstände der Plattformbetreiber, die Hassnachrichten zu löschen: "Wir haben zwar Urteile, aber die Personen machen einfach weiter." Zu gewinnen hat er nicht viel: "Es gibt keinerlei Schmerzensgeld oder Schadenersatz. Ich möchte einfach, dass es vom Netz genommen wird." Im besten Fall werden die Prozess- und Anwaltskosten ersetzt. Die Praxis sieht aber anders aus: "Die Verursacher zahlen nicht oder tauchen unter." Gutjahr spricht von Kosten in der Höhe von "mehreren Zehntausend Euro".

Rechtsschutzversicherung gekündigt

Seine private Rechtsschutzversicherung wurde ihm schon vor längerer Zeit gekündigt, jetzt hat er eine neue: "Aufgrund meiner Vorgeschichte kostet die mich aber sehr viel Geld." Unterstützung erhält er mittlerweile vom Deutschen Journalistenverband, während er sich von seinem ehemaligen Arbeitgeber, dem Bayerischen Rundfunk (BR), im Stich gelassen fühlt.

Gutjahr war beim BR 22 Jahre lang als sogenannter fester freier Mitarbeiter tätig. Er moderierte etwa die Rundschau-Nacht, arbeitete für verschiedene Formate und schrieb nebenbei auch für andere Medien.

Beim BR kündigte er, nicht ohne am 31. Dezember 2019, seinem letzten Arbeitstag, eine Abrechnung zu veröffentlichen: Er warf der Führungsspitze des Senders vor, allen voran dem BR-Intendanten Ulrich Wilhelm, ihn und seine Familie mit dem "Hass und der Hetze alleingelassen zu haben". Für die Prozesskosten soll Gutjahr vom BR eine höhere vierstellige Summe als Einmalzahlung bekommen haben. Für ihn ist das ein Tropfen auf dem heißen Stein.

"Zusehen ist keine Option"

Ursprünglich hatte er nicht vor, das Schreiben auf seinen Blog zu stellen, sagt Gutjahr. Nur: "Das Thema ist zu wichtig, als dass man es in Hinterzimmern diskutiert." Das Thema ist für den Journalisten längst nicht mehr, dass er als Person ins Visier geriet, sondern viel größer dimensioniert: der Hass im Netz und sein gesellschaftlicher Impetus. Und wie Medienhäuser, die ihre Journalisten schützen sollten, damit umgehen: "Das Problem sind nicht die Hetzer und Hassprediger, sondern jene, die sie gewähren lassen." Etwa indem sie solche Beiträge liken, teilen, wortlos akzeptieren oder ignorieren: "Wir sind als Gesellschaft gefordert. Zusehen ist keine Option."

Gefordert seien auch die Plattformbetreiber und ihre Algorithmen, die bestimmen, was gesehen wird: "Google und Facebook profitieren in hohem Maße von Hass und Falschnachrichten. Nichts sorgt für mehr Engagement als Hetze und üble Nachrede." Im Falle Gutjahrs sind die Hassnachrichten auf allen Kanälen gekommen: "Über Telefon, E-Mail, Whatsapp, Twitter, Facebook, Foren, vor allem aber Youtube."

Kommentieren ohne Genieren

An Googles Videoplattform lässt Gutjahr kein gutes Haar: "Youtube war und ist bis heute zentrales Agitationsorgan. Nichts emotionalisiert und aktiviert so sehr wie Videos." Ein großes Problem ortet er bei den Kommentaren unter den Videos: "Hier darf man alles schreiben, ohne sich fürchten zu müssen, jemals dafür belangt zu werden."

Im Falle Gutjahrs verbreiteten sich Videos mit abstrusen Verschwörungen häufig im Dark Web: "Diese Kanäle sind oft radikaler, und von dort geht die größere Gefahr aus, den Internethass auf die Straße zu treiben." Polizei und Behörden seien zwar alarmiert, nur: "Es fehlt an technischer Ausrüstung und Personal. Dieses Spiel wird der Staat verlieren." Daran könne kein Gesetz etwas ändern.

Was er jedenfalls nicht will, ist eine lückenlose Überwachung: "Sosehr mich meine Peiniger auch bedroht haben, ich möchte nicht, dass der Staat Zugriff auf Whatsapp oder E-Mail-Nachrichten hat", so Gutjahr. "Lassen wir das zu, können wir unsere Demokratie gleich ganz abschaffen."

Gutjahr ist auch gegen eine Klarnamenpflicht, alleine schon um Whistleblower zu schützen. Und: "Viele, die uns tot oder ins KZ gewünscht haben, taten dies unter vollem Namen." Das Internet hält Gutjahr nach wie vor für einen Segen, schränkt aber ein: "Weil wir uns mit dieser Kulturtechnik zu wenig befasst haben, ist dort ein Vakuum entstanden, das vor allem Extremisten nutzen." Seinen Kampf für ein besseres Internet will er weiterführen: "Ich möchte mir von meinen Enkeln nicht vorwerfen lassen, dass wir nichts getan haben." (Oliver Mark, 15.1.2020)