Wien – Ungarn ist Achterbahn gefahren, und András Vértes war immer im ersten Wagen mit dabei. Vértes leitet seit mehr als 20 Jahren das Budapester Forschungsinstitut GKI. Er und seine Experten vermessen Monat für Monat, wie es den Ungarn geht. In den 2000er-Jahren stieg der Wohlstand im Land stark an, ehe sich im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 herausstellte, dass alles auf Sand gebaut war. Ungarn schlitterte in eine dramatische Rezession. Einkommen sanken oder stagnierten, die Arbeitslosigkeit stieg. Das hat sich inzwischen wieder geändert – und 2019 war in dieser Hinsicht ein bemerkenswertes Jahr.

"Die Einkommen der Menschen sind rasant gestiegen", sagt Vértes. "Die Bäume wachsen zwar auch bei uns noch nicht in den Himmel. Aber die Entwicklung ist faszinierend". Die durchschnittlichen Bruttolöhne der Ungarn legten 2019 um zehn Prozent zu. Selbst unter Einrechnung der Inflation bleibt ein sattes Plus von sieben Prozent.

Ungarn aus der Mittelschicht kaufen Wohnungen, Autos und Fernseher wie in den besten Zeiten vor der Wirtschaftskrise, sagt Vertés. Nur diesmal ohne Fremdwährungskredite, die für so viele Menschen in der vergangenen Krise zur Schuldenfalle wurden, wie die Frankenkredite für viele Österreicher.

Die Ungarn sind nicht allein

Und die Ungarn sind nicht allein. Katarína Muchová, Ökonomin bei Slovenská sporitelna, der Erste-Group-Tochter in der Slowakei, analysiert die Entwicklung der Löhne in Zentral- und Osteuropa. In allen Ländern der Region gab es einen Sprung, sagt sie. Der Lebensstandard steigt. In Rumänien sind die Bruttoeinkommen im Vorjahr inflationsbereinigt um zehn Prozent gestiegen.

In Polen waren es plus 4,3 Prozent, in der Slowakei fünf Prozent. Muchová sagt, die Lohnsprünge hätten schon 2017 eingesetzt. Seither ist einiges zusammengekommen, in Ungarn und Rumänien wuchsen die Bruttolöhne inflationsbereinigt um mehr als 25 Prozent.

Wieso gibt es diese Entwicklung gerade jetzt, und was bedeutet sie für die betroffenen Länder und ihre Nachbarstaaten? Das ist auch für Österreich eine wichtige Frage. Zunächst, weil österreichische Unternehmen zu den größten Investoren in Osteuropa zählen – das gilt für Banken, Versicherungen und Lebensmittelketten.

Für sie dürfte die steigende Kaufkraft in der Region zu einem Umsatzplus führen, sagt der Ökonom Vasily Astrov vom Wiener Osteuropainstitut Wiiw. Die andere relevante Frage aus heimischer Sicht ist, wie sich die Lohnparty auf die Migrationsströme auswirkt. In den vergangenen Jahren sind hunderttausende Ungarn, Rumänen, Bulgaren und Slowaken zum Arbeiten am Bau, im Tourismus oder in Supermärkten nach Österreich gekommen. Werden künftig weniger Arbeitskräfte kommen?

Weniger Migranten

Astrov erwartet genau das. In einem Forschungs-Paper, das er jüngst publiziert hat, schreibt er, "dass die Migrationsströme aus der Region nachlassen werden", was den Arbeitskräftemangel in Österreich verschärfen werde. Vor allem für Arbeitskräfte, die pendeln und täglich oder wöchentlich weite Distanzen nach Österreich zurücklegen müssen, wird es interessanter, daheimzubleiben.

Foto: Der Standard

Aber es gibt auch gute Gegenargumente: Trotz des Anstiegs ist der durchschnittliche Stundenlohn in Österreich immer noch viermal höher als in Rumänien, Ungarn und Polen sowie dreimal höher als in der Slowakei oder Tschechien.

Politisch motivierte Auswanderung

Dass die Lebenserhaltungskosten unterschiedlich sind, der reale Lohnvorteil also niedriger ist, spielt bei der Entscheidung, ob jemand auswandert, in der Praxis oft keine wichtige Rolle. Aber selbst unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Preisniveaus sind die Lohnunterschiede zwischen Osten und Westen noch beachtlich.

Hinzu kommt, dass die Abwanderung aus Osteuropa nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen stattfindet. Junge Ungarn und Polen verlassen ihre Heimat mitunter auch, weil sie das politische Klima dort nicht aushalten.

Der ungarische Ökonom Vértes sagt, dass von einem Stopp der Auswanderung nichts zu spüren sei. "Es gehen nach wie vor mehr Ungarn weg als zurückkommen", so Vértes. 4,4 Millionen Beschäftigte gibt es in Ungarn. Zwischen einer halben Million und 600.000 Menschen haben das Land für immer verlassen. So ganz genau wisse das keiner, sagt der Ökonom, weil Auswanderer im Gegensatz zu Einwanderern nicht systematisch erfasst werden. Hinzu kommen noch mal 100.000 Ungarn, die im Land leben, aber im Ausland arbeiten – meist in Österreich.

Die Fenster eines Büroturms in Danzig, Polen, werden gereinigt. Das starke Wirtschaftswachstum und die massive Auswanderung haben am polnischen Arbeitsmarkt eine Lücke hinterlassen.

Gewerkschaften in stärkerer Position

Interessanterweise ist die starke Auswanderung einer der Hauptgründe dafür, dass die Löhne in Osteuropa zuletzt so angezogen haben. Die Auswanderung hat in Ungarn, der Slowakei, in Polen, Rumänien und Bulgarien zu einem Rückgang der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter geführt. In Tschechien lag die Nettomigration bei null.

Die Alterung der Gesellschaft sorgt aber auch dort dafür, dass Arbeitskräfte fehlen. Tschechien hat heute die niedrigste Arbeitslosenquote in der gesamten EU, knapp dahinter folgen Polen und Ungarn. "Diese Situation hat die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften maßgeblich verbessert und die hohen Lohnsteigerungen ermöglicht", sagt Wiiw-Ökonom Astrov.

Hinzu kamen Sondereffekte: Die staatlich festgesetzten Mindestlöhne sind in mehreren Ländern stark erhöht worden, was den Lohndruck verstärkt (siehe Artikel unten). Die ganze Entwicklung hat natürlich vor dem Hintergrund eines starken Wirtschaftswachstums stattgefunden. Für 2020 mehrten sich zuletzt die Zeichen, dass die Party zwar nicht zu Ende ist, sich das Wachstum aber doch abschwächen wird. (András Szigetvari, 15.1.2020)