Bosnische Kinder 1992 in Wien: Damals fand man flüchtlingspolitisch pragmatische Wege.

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Wien – Das Jahr des EU-Beitritts Österreichs, 1995, war eine aus jetziger Sicht asylpolitisch ziemlich fremde Welt. An der ungarischen Grenze wiesen heimische Polizisten tausende Flüchtlinge ab, ohne dass diese einen Asylantrag stellen konnten.

Die Zahl von Asylanerkennungen war infolge einer nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ausländervolksbegehrens der FPÖ beschlossenen Gesetzesnovelle im Jahr davor auf nur 683 gesunken.

Die neue Regelung definierte sämtliche Nachbarstaaten pauschal als sicher, was Asylanträge in Österreich im Grunde verunmöglichte. Ein gewisser Rechtsanwaltsaspirant Georg Bürstmayr sah daher im STANDARD-Gastkommentar ironisch Zeiten kommen, in denen Asylsuchende in Flugzeugen im Landeanflug auf Wien "mit Fallschirmen ausgerüstet dem Notausgang zueilen".

Pragmatische Lösung für Bosnier

Gleichzeitig präsentierte SPÖ-Innenminister Franz Löschnak eine Zwischenbilanz der Unterstützungsaktion für Kriegsvertriebene aus Bosnien-Herzegowina, die diesen rund 90.000 Menschen ein befristetes, aber verlängerbares Aufenthaltsrecht zuerkannte, statt bei jedem Einzelnen ein individuelles Asylverfahren durchführen zu müssen; eine pragmatische und menschenrechtskonforme Aufnahmelösung angesichts der großen Zahl Schutzsuchender.

Sechs Jahre später, 2001, sollte sie in die Massenzustrom-Richtlinie der EU einfließen, die seither jedoch nie angewandt wurde, da es keine einstimmigen Beschlüsse dafür im EU-Rat gab. Auch 2015 anlässlich der großen Fluchtbewegung nicht, als Auswege aus der Überlastung der Asylsysteme einer Reihe von Staaten dringend notwendig gewesen wären.

"Asylshopping"

Insgesamt bot 1995 eine Realität, in der die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Flüchtlingsfragen weit mehr auf sich allein gestellt waren als heute, 25 Jahre später. Zwar war mit dem Maastrichter Vertrag 1992 ein erster Schritt in Richtung Harmonisierung vollzogen worden, indem die Asyl- und Flüchtlingspolitik zur "Angelegenheit von gemeinsamem Interesse" wurde.

Doch systematischen Austausch über asylrechtliche Belange von Land zu Land gab es nicht. Manchem Schutzsuchenden ermöglichte das Mehrfachasylanträge in verschiedenen EU-Staaten, was zu harscher Kritik an "Asylshopping" führte – wobei die Verfahren je nach Staat nach zum Teil höchst unterschiedlichen Regeln abliefen.

Ende der Flüchtlingsobdachlosigkeit

Letzteres änderte sich ab den frühen 2000er-Jahren mit der Novellierung des Dubliner Übereinkommens, das die Zuständigkeit eines einzigen EU-Landes für einen Asylantrag fixierte. Sowie mit dem Inkrafttreten der Asylrichtlinien der Europäischen Union. Ab 2003 definierte etwa die Aufnahmerichtlinie unionsweite Mindeststandards für die Behandlung und Versorgung von Schutzsuchenden.

In Österreich beendete ihre Umsetzung einen jahrelangen Missstand, der Ende 1995 mit heillos überlasteten Caritas- und Diakonienotquartieren sowie hunderten obdachlosen Flüchtlingen einen ersten Höhepunkt erreicht hatte.

Start des Asylquotenstreits

Die unter ÖVP-Innenminister Ernst Strasser 2004 eingeführte Grundversorgung brachte geteilte Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern – sowie leider auch jahrelange Streitereien über die Unterbringungsquotenerfüllung Letzterer.

2005 folgte die Asylverfahrensrichtlinie der EU, die Mindestnormen bei der behördlichen und gerichtlichen Behandlung definiert. Ihr haben Asylwerber die kostenlose Rechtsberatung zu verdanken, die infolge der Verstaatlichung der Asylversorgung unter Türkis-Blau in Österreich derzeit umstritten ist.

Flüchtlingsabhaltepraxis

Als größter asylrechtlicher Fortschritt in der EU ist jedoch die 2009 in Rechtskraft gelangte Grundrechtecharta zu nennen. In Artikel 18 sieht sie ein verbindliches Recht auf Asyl nach Maßgabe der bestehenden Abkommen, Protokolle und Verträge vor. Ihr steht eine vor allem seit 2015 betriebene Flüchtlingsabhaltepraxis gegenüber, die in Österreich in dem von Bundeskanzler Sebastian Kurz hervorgehobenen Schließen der Balkanroute gipfelte.

Schutzsuchende sollen um keinen Preis angezogen werden. Die Zeit der Bosnier-Unterstützungsaktion ist lange vorbei. (Irene Brickner, 14.1.2020)