Den markant geschärften Fischrogen Myeongnan-jeot vom pazifischen Pollack, mit dem Igor Kuznetsov einen Teller frisch geschnittener Linguine anmacht, hat er über Weihnachten auf dem Gwangjang-Markt von Seoul besorgt – da ist seine Freundin Hye-Lee zu Hause. Den Keta-Kaviar, der dem Tartare von der alten Kuh wilde Umami-Noten verpasst, bekommt er von der Mama aus Russland geschickt.

Lammherz, auf dem Robata-Holzkohlengrill in der winzigen offenen Küche butterzart gegrillt, bevor es mit süß-würzigem Birnensenf zu Tisch kommt, ist von Tieren, die Freunde am Schneeberg halten. Und die Knollen für die wohlig mollige Sellerie-Vichyssoise mit Sansho-Pfeffer-Öl bekommt er von Jahwezi Graf und Tristan Toé, die in Gars am Kamp ganz bemerkenswertes Biogemüse ziehen.

Igor Kuznetsov (li.) kocht am Salzgries nur, was ihm selber schmeckt, aus sehr internationalen und sehr lokalen Zutaten.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Koch-Autodidakt

"Denen nehme ich alles ab, auch was sie zu viel haben", sagt Kuznetsov, "deshalb habe ich schon im Herbst viel eingekocht, deshalb muss ich mir im Winter dauernd etwas Neues mit Sellerie oder Roten Rüben einfallen lassen." Es ist eben fordernd, wenn man sich als Koch auf enge Partnerschaft mit Kleinproduzenten einlässt – sorgt aber auch dafür, dass man ja nicht in eingefahrenen Bahnen denkt.

Das ist es, was den Koch-Autodidakten am Kochen fasziniert – und warum er seine gut gehenden Ramen-Hütten (Karma beim Naschmarkt und am Fleischmarkt) verkauft hat, um sich den Traum eines Restaurants zu erfüllen, in dem er nur kocht, was ihm selber schmeckt, aus Zutaten, die eine Geschichte zu erzählen haben. Das wunderhübsche Geschirr hat er sich bei Tokio-Aufenthalten (wo sich auch der eine oder andere Stage in Top-Restaurants wie dem Noma-Ableger Inua ausging) in Antiquitätenläden zusammengekauft.

Das Filet von der alten Milchkuh mit köstlich lauwarmem Kohlrabi-Sardellen-Salat ist perfekt medium rare gegrillt.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Die sehr speziellen, zwischen Klassik und Avantgarde tänzelnden Weine kommen von befreundeten Winzern und von Enrico Bachechis Naturwein-Vinothek Vinifero. Was es zu essen gibt, steht auf der täglich frisch geschriebenen Tafel – vor allem aber wird es von Igor selbst am Tisch vorgetragen und erläutert. Man sucht sich seine Gänge für die mehr als preiswerten Menüs zusammen, dann geht’s auch schon los.

Meer, gereift

Und zwar mit Essen, das auf erfrischende Weise keine Rücksicht auf vermeintliche Erwartungshaltungen nimmt. Okay, es gibt Beef Tartare – aber nicht als gerontophilen Fleischbrei wie oft, sondern dick aus dem Filet alter Milchkühe geschnitten, mit Sesamöl und gereiftem Keta-Kaviar markant abgeschmeckt, mit geröstetem Klebreispulver bestreut und auf ein wunderbar knuspriges Tartelette aus Sesam-Mürbteig gebettet – sehr vielversprechend. Die erwähnten Linguine sind eine mächtige Portion, denen der Fischrogen meersalzige Pikanz verleiht – ebenso pur wie köstlich.

Pithiviers, die prächtige Blätterteigpastete vergangener französischer Jahrhunderte, wird gerade als Instagram-Ikone neu entdeckt (und erfährt in Restaurants wie dem Bozar in Brüssel eine grandiose Renaissance). Kuznetsov hat das fasziniert, worauf er sich kurzerhand an einer vegetarischen Variante versucht. Das sieht nicht ganz so kronjuwelenmäßig ziseliert wie in Brüssel aus, die Fülle aus cremig weichem Ei und knackigem Kraut schmeckt aber spektakulär gut, speziell in Kombination mit süßsaurer Schalottencreme.

Filet von der alten Milchkuh mit köstlich lauwarmem Kohlrabi-Sardellen-Salat ist (siehe Bild) perfekt medium rare gegrillt, ein bissl mehr Röstaromen hätte es – gerade bei solch einzigartig tiefem Fleischgeschmack – aber vertragen. Nicht alles gerät einstweilen ganz souverän, der Rote-Rüben-Pudding nach viktorianischem Rezept etwa ist doch ein bissl teigig. Aber solange das alles ist, was an solch einem erfrischend mutigen Neuzugang der Szene zu bekritteln ist, kann es nur gut sein. Die neue Dekade fängt gut an! (Severin Corti, RONDO, 17.1.2020)

Google-Map: Aktuelle Restaurantkritiken in Wien

Lokale in Österreich: Severin Cortis Restaurantkritiken

Rezepte in der Standard.at/EssBar