Der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 brachte schlagartig zu Bewusstsein, dass der sowjetische Staatssozialismus an sein Ende gekommen war. Welche Zukunft anbrechen würde, war damals allerdings noch nicht sofort klar. 1991 beendeten sowohl das Militärbündnis Warschauer Pakt als auch der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, im westlichen Sprachgebrauch oft "Comecon") ihre Tätigkeit, am Ende des Jahres war auch die Sowjetunion als Staat eine abgeschlossenen Geschichte.

Für die DDR endete ihre staatssozialistische Geschichte im Herbst 1989. Ihre staatliche Eigenständigkeit erlosch am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland. Sie wurde zu den „Fünf Neuen Ländern" (FNL) oder auch einfacher: Ostdeutschland. Wie auch die anderen ehemaligen Mitglieder der staatssozialistischen Familie durchlief die ostdeutsche Gesellschaft eine radikale Transformation. Im Unterschied zu den anderen Staaten jedoch verlief diese Transformation gewissermaßen behütet, im Rahmen des sozialen Rechtsstaats der BRD. Und damals wie heute ist die Ansicht verbreitet, sie sei deshalb privilegiert gewesen¹. 

Auf der anderen Seite messen sich "die Ostdeutschen" selbst häufig an "den Westdeutschen". Adäquater wäre es, wenn sie sich an "den Osteuropäern" messen würden, deren Ausgangspunkt ebenso der europäische Staatssozialismus war, und deren Weg gleichermaßen von dort in eine globalisierte kapitalistische Gesellschaft führte.

Umbau des Alltags

Die wesentlichen Prozesse der radikalen postsozialistischen Transformation nach 1989 waren der Abbau der diktatorischen politischen Machtverhältnisse und der Übergang zu Demokratie und Rechtsstaat, der Umbau der Wirtschaft aus einer zentralisierten Staatsplanwirtschaft in eine Form von Marktwirtschaft, die Integration der bisher innerhalb eines besonderen Regionalsystem weitgehend abgeschotteten Volkswirtschaften in eine globale, kapitalistisch funktionierende Weltwirtschaft und deren Institutionen. Dazu kam auf der Ebene der individuellen Lebenswelten ein umfassender Umbau des Alltags der Bevölkerungen.

Auf den ersten Blick scheint die postsozialistische Transformation in Osteuropa sich von der Ostdeutschlands kaum zu unterscheiden. Zumindest gab es in den unmittelbaren Nachbarstaaten der DDR beziehungsweise Ostdeutschlands ähnliche Ergebnisse, angefangen von der erreichten Höhe des Lebensniveaus bis zum Niveau der Integration in die EU. Selbst bezüglich des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien (in Ostdeutschland der AfD, in Polen PiS, in Ungarn Fidesz) zeigen sich Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede finden aber in Details ihren Ausdruck, die jedoch für das gesellschaftliche Zusammenleben entscheidend sind. Sie treten deutlicher zu Tage, wenn die Abläufe der Transformation genauer in den Blick genommen werden.

Der Fall der Mauer und das Ende der UdSSR haben unterschiedliche Entwicklungen verursacht.
Foto: EPA/FRIEDEMANN VOGEL

Unterschiedliche Geschwindigkeiten der Transformation

Im Vergleich der ostdeutschen mit der osteuropäischen Transformation fällt zunächst die größere Geschwindigkeit der Prozesse im Osten Deutschlands ins Auge. Das trifft besonders auf das Tempo der wirtschaftlichen Umgestaltung und weltwirtschaftlichen Integration zu. In einigen Staaten Osteuropas (Polen, Ungarn) begannen zwar die Wirtschaftsreformen anders als in der DDR bereits vor 1989, aber die ostdeutsche Wirtschaft wurde durch drei Faktoren in einem sehr viel höheren Tempo als die der osteuropäischen Nachbarn umgebaut: die deutsche Währungsunion im Sommer 1990, die Aufnahme der DDR in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft durch den Beitritt zur Bundesrepublik im Oktober 1992 und die Privatisierung mittels der nur dem deutschen Finanzministerium verantwortlichen Treuhandanstalt bis Ende 1994. Während sich die Privatisierung in anderen Staaten zumindest über ein Jahrzehnt erstreckte, wurde sie in Ostdeutschland im Wesentlichen in vier Jahren abgeschlossen. Auf der Ebene des politischen Systems fällt auf, dass die Entmachtung der vorherigen Staatspartei und der Sicherheitskräfte der DDR besonders radikal und schnell bereits vor Vollzug der deutschen Einheit verwirklicht wurden.

Aber die Prozesse verliefen nicht nur unterschiedlich schnell, sie führten auch zu größeren Belastungen der Ostdeutschen. Von 4,1 Millionen Arbeitsplätzen in den ursprünglich von der deutschen Treuhand verwalteten Betrieben Ostdeutschlands gingen 2,6 Millionen verloren. Von den anfangs 12.000 Betrieben wurden über 30 Prozent liquidiert, 13 Prozent an die alten Eigentümer zurückgegeben. Von den privatisierten restlichen Betrieben gingen 80 Prozent an westdeutsche Eigentümer, 14 Prozent an ausländische und nur sechs Prozent an ostdeutsche. Dazu kam dann allerdings noch die Privatisierung von circa 25.000 kleineren Unternehmen wie einzelnen Geschäften, Hotels, Apotheken, Buchhandlungen und Kinos, die zu einem größeren Teil in ostdeutschen Besitz übergingen. Hingegen wurden die Zeitungen und Verlage der DDR – sofern überhaupt weitergeführt – weitgehend von westdeutschen Eigentümern übernommen. In anderen Staaten entstand eine nicht so schmale eigene Unternehmerschicht. Natürlich gab es auch dort Privatisierungen ehemaliger Staatsbetriebe zugunsten ausländischer Unternehmen – etwa der wirtschaftlich sehr erfolgreiche Wechsel von Škoda an VW – aber der Anteil ausländischer Eigentümer ist in Polen, Ungarn oder Tschechien sehr viel geringer. Diese unterschiedlichen Ergebnisse haben natürlich weniger mit einer Geschwindigkeitsdifferenz der Transformation zu tun, sondern wurzeln in den unterschiedlichen nationalstaatlichen Machtverhältnissen.

Im deutschen Fall übernahm ein funktionierendes westdeutsches Staatswesen die politische Führung. Die ostdeutschen politischen Akteure wurden mehrheitlich in bestehende Parteien integriert. Dass es in den Parteien und im staatlichen Verwaltungsapparat dominierende Interessen gab, kann niemanden verwundern. Die entsprechende Verteilung der Vorteile aus dem Privatisierungsprozess überrascht angesichts dessen ebenfalls nicht. Allerdings bleibt jenes Machtungleichgewicht im neuen deutschen Gemeinwesen ein langwirkendes Erbe aus dem spezifischen Transformationsprozess.

Die Vorteile eines starken Sozialstaates

Eine weitere Besonderheit der ostdeutschen Transformationsprozesse bestand in seiner rechts- und sozialstaatlichen Absicherung durch den funktionierenden Nationalstaat. Obwohl in Ostdeutschland sehr viel schneller als in den meisten anderen Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs eine hohe Arbeitslosigkeit entstand, schlugen deren soziale Kosten nicht unmittelbar auf das ostdeutsche Alltagsleben durch. Mit der deutschen Einheit wurde auch in den ostdeutschen Bundesländern ein funktionierendes System der Arbeitsmarktregulierung eingeführt. Die Leistungen für Arbeitslose deckten in Ostdeutschland sehr viel besser als in den Vergleichsstaaten die Kosten des Lebensunterhalts ab.

Auch die Folgekosten der wirtschaftlichen Stabilisierung waren in Ostdeutschland für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger geringer als in den Nachbarstaaten: es gab keine große Inflation, die bisherigen Sparguthaben wurden demzufolge auch nicht entwertet oder gar vernichtet². Diese Vorteile wurden auch durch den partiellen Abbau des Sozialstaates durch die Arbeitsmarktreformen Anfang der 2000er-Jahre nicht völlig entwertet. Schließlich waren die Ostdeutschen auch besser als ihre Nachbarn gegen die in der Umbruchszeit grassierende Korruption abgesichert. Es gab natürlich Korruption zum Schaden der Bevölkerung, aber die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Fälle und gegebenfalls Bestrafung der Täter war auf Grundlage des funktionierenden (west)deutschen Rechtsstaates besser gegeben. In den Meinungsumfragen nach dem Ende der radikalen Transformation wird die "Korruption" in den meisten postsozialistischen Staaten als größtes Problem angesehen, in Ostdeutschland ist das nicht der Fall.

Ostdeutsche Spezifika

Die außengeleitete Transformation ist eine der wesentlichen Ursachen der Unterschiede im Transformationsverlauf und seinen Ergebnissen zwischen Osteuropa und Ostdeutschland. Eine der deutlichsten Auswirkungen dieses gravierenden Unterschiedes ist der bis heute geringe Anteil ostdeutscher Führungskräfte an den "Eliten" des vereinigten Deutschland. Darüber ist besonders seit der letzten Bundestagswahl, die im Osten eine deutliche Zunahme des Einflusses der rechtsnationalen AfD brachte, viel diskutiert worden. "Braucht Deutschland eine Ostquote?", fragte etwa die Wochenzeitung "Die Zeit" im November 2017. Im Februar 2019 befürwortet ein Kommentar in der "Süddeutschen" diese Quote mit folgendem Argument: "Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder beim Militär werden von Ostdeutschen besetzt." Und das war der Stand nach 29 Jahren deutscher Wiedervereinigung. Wer immer in den Nachbarstaaten verantwortliche Positionen ausübt, er ist in der übergroßen Zahl auch in diesem Staat geboren. In Ostdeutschland ist das grundsätzlich anders.

Der Vergleich von Verlauf und Ergebnissen der Transformation in Osteuropa und Ostdeutschland fällt also ambivalent aus. Einige Felder sehen Vorteile für die Ostdeutschen, andere Prozesse fielen in den östlichen Nachbarstaaten Deutschland weit günstiger für die Bevölkerung aus. Jedenfalls aber ist schon nach diesem kurzen Faktencheck klar: Ostdeutschland ist kein auf allen Feldern privilegierter Sonderfall der osteuropäischen Transformation. (Dieter Segert, 20.1.2020)

Dieter Segert war von 2005 bis 2017 Universitätsprofessor für Transformationsprozesse in Mittel-, Südost- und Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

¹ Vgl. etwa das sozialwissenschaftliche Standardwerk „Einheit als Privileg - vergleichende Perspektiven auf die Transformation Ostdeutschlands“, Frankfurt a.M.: Campus 1996, hrg. durch H. Wiesenthal.

² Zu den differenzierten Auswirkungen der wirtschaftlichen Transformation auf die Lebenslage der Bevölkerungen in Ostmitteleuropa siehe unter anderem die folgende Analyse des Autors: "Osteuropa nach 1989 – ein Labor für die soziale Belastbarkeit unserer Demokratie?", in: WISO 33 (2010/3), S. 29-42.

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