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Der Großen Geschichten der Ältesten Tage letzter Teil: Zum dritten Mal nach "Die Kinder Húrins" und "Beren und Lúthien" führt uns Christopher Tolkien mit einer sorgfältigen Bearbeitung der Originaltexte seines Vaters ins Erste Zeitalter der Sonne zurück. Das freilich noch gar nicht so hieß, als J. R. R. Tolkien seine Mythologie vom Leben und Leiden der Elben in Beleriand ursprünglich konzipierte – die späteren Zeitalter samt Ringen und Hobbits hatte er damals noch gar nicht ersonnen.

Those were the days, my friend

Angesichts von Tolkiens latent hierarchischer Ethnographie bedeutet das zugleich, dass hier alles eine Ebene "höher" angesiedelt ist als im "Herrn der Ringe": Statt Maiar wie Gandalf und Sauron werden hier die Valar selbst – de facto also die Götter – aktiv, allen voran der ewige Antagonist Morgoth und der Herr der Meere und Flüsse, Ulmo. Statt Menschen stellen noch Elben den ausschlaggebenden Teil der Weltbevölkerung. Und mindere Sterbliche, die im Geschehen die Rolle von Katalysatoren einnehmen, sind in diesem Zeitalter nicht Hobbits, sondern Menschen.

Genauer gesagt ist es der einzelgängerisch veranlagte Mann Tuor, der von Ulmo den Auftrag erhält, die verborgene Elbenstadt Gondolin aufzusuchen. In dieser Epoche hält Morgoth Mittelerde fest in seinem Würgegriff. Die stolzen Elben sind getötet, versklavt oder in die Flucht getrieben worden. Als letzte der glorreichen Elbenstädte ist nur noch Gondolin geblieben, das in einem ringsum von Bergen umschlossenen Tal vor Morgoths Blick verborgen ist. Und über eine eigene Fliegerabwehr in Form von Bogenschützen und Thorondors Adlern verfügt, wie wir an einer Stelle erfahren: Das nur als Info für alle, die wieder mal eine Logiklücke argwöhnen – schließlich hat Morgoth in seinem Gefolge allerhand fliegendes Geschmeiß, dem die schimmernden Türme Gondolins eigentlich nicht entgehen dürften ...

Verschiedene Fassungen

Wie schon im Band "Beren und Lúthien" legt uns Christopher Tolkien nacheinander die verschiedenen – und in vielen Details oft widersprüchlichen – Fassungen der Geschichte vor, die sein Vater im Lauf von Jahrzehnten niedergeschrieben hat. Manche sind nur skizzenhaft, zwei hingegen lassen mit ihren 60 respektive 80 Seiten das Epos erahnen, das Tolkien zeitlebens durch den Kopf ging, mit dem er aber in den Worten seines Sohnes letztlich "Schiffbruch erlitt". Es hat nie ein Pendant zum "Herrn der Ringe" gegeben, auch nicht in Gestalt dieses Bands: Das sei hier sicherheitshalber noch einmal ausdrücklich festgehalten – für den Fall, dass es wirklich noch jemanden gibt, der an verschollene Romane Tolkiens glaubt.

Die in ihrer Erzählweise elaborierteste Fassung ist der 1951 entstandene, grob 60-seitige Text, der später unter dem Titel "Tuor und seine Ankunft in Gondolin" veröffentlicht wurde – in den 80ern kam er sogar als eigenes kleines Bändchen auf den Markt. Hier ist die Erzählung am detailreichsten, dafür reicht sie aber dem posthum gewählten Titel entsprechend tatsächlich nur bis zu dem Moment, in dem Tuor zum ersten Mal die verborgene Stadt erblickt.

Aus der Historie gespeiste Mythologie

Das, was Christopher Tolkien in diesem Band schlicht "Die ursprüngliche Geschichte" nennt, erzählt hingegen auf 80 Seiten die ganze Story, von Tuors Queste über seine Zeit in Gondolin bis zu Belagerung und Fall der Stadt. Dieser Text, der den Band eröffnet, entstand bereits während des Ersten Weltkriegs. Was man ihm auch anzumerken glaubt, wenn man liest, wie Tolkien die Belagerungsmaschinerie Morgoths beschreibt:

Manche waren ganz aus Eisen und so kunstreich mit Gliedern versehen, dass sie wie langsame Flüsse aus Metall strömten, sich um Hindernisse herumwinden oder über sie kriechen konnten, und sie bargen in ihrem Inneren die grausamsten Orks, bewaffnet mit Krummsäbeln und Speeren; andere waren aus Bronze und Kupfer und hatten Innereien aus loderndem Feuer, und mit ihrem entsetzlichen Flammenspeien vernichteten sie alles, was vor ihnen stand, oder sie zertrampelten, was immer der verzehrenden Glut ihres Atems entging; doch wieder andere waren Kreaturen aus reinem Feuer, die sich wanden wie Schlangen geschmolzenen Metalls, und sie vernichteten jedweden Stoff, der in ihre Nähe kam, und Eisen und Stein lösten sich vor ihnen auf und wurden wie Wasser, und darauf ritten die Balrogs zu Hunderten ...

Hunderte Balrogs! Wie gesagt, im Ersten Zeitalter war alles noch etwas größer dimensioniert. Und auch wenn man in Tolkiens Schaffen jede Menge wiederkehrende Motive findet und hier die Schlacht um die Hornburg und die Belagerung von Minas Tirith ihren Vorläufer haben – neben den Kämpfen in Beleriand nimmt sich der Ringkrieg aus wie der Krieg der Knöpfe.

Zurück auf den Boden

Auf die verschiedenen Originaltexte folgt dann noch eine vergleichende Analyse Christopher Tolkiens, mit der "Der Fall von Gondolin" endgültig in den literaturwissenschaftlichen Bereich wandert; spätestens hier dürften sich die Tolkienologen von den bloßen Tolkien-Fans scheiden. Glossar, Ahnentafeln und die gewohnt sepia-getönten Illustrationen von Tolkiens Hofillustrator Alan Lee sind – wie man eigentlich schon erwartet – vorhanden. Dazu ist noch eine faltbare Karte von Beleriand beigelegt, dem Land (oder Subkontinent?), das zu Zeiten des "Herrn der Ringe" längst im Meer versunken ist.

Und irgendwie kommt man am Ende nicht drum herum, die Gedanken aufs aktuelle Tolkien-Thema Nummer 1 zu richten: Wir wissen, dass Amazon in Kooperation mit Tolkiens Erben eine TV-Serie plant, die Geschehnisse aus der Zeit vor dem "Herrn der Ringe" zum Inhalt haben soll. Geht man rein nach der Materialmenge, die Tolkien hinterlassen hat, dann würden sich die Großen Geschichten der Ältesten Tage heftig für eine Adaption anbieten: Zu keiner anderen Phase der Vorgeschichte von Mittelerde ist eine derartige Stoffdichte vorhanden. Darauf wetten würde ich allerdings nicht. Der momentane Stand der Gerüchte läuft darauf hinaus, dass die Prequel-Serie zunächst einmal die Jugendjahre Aragorns ins Auge fassen wird. Schau mer mal.