Angesichts des Umstands, dass sich heuer bereits zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs, der Untergang des verbrecherischen Naziregimes, damit einhergehend auch die Befreiung der in den Konzentrationslagern Inhaftierten jährt, wird klar, dass auch die Zeitzeugen, die jene Zeit bewusst erlebt und die systematische Massenvernichtung überlebt haben, immer älter und weniger werden, drängt die Zeit, deren Geschichte – als Mahnmal für die Nachwelt – zu erhalten, zu dokumentieren.

Den Überlebenden der Shoah ein Gesicht geben, um ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihre Leidensgeschichte und deren Überwindung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Foto: Martin Schoeller

Diese Aufgabe hat nun Martin Schoeller, ein seines Zeichens in den USA gefeierter und hochdekorierter, in Europa aber nahezu unbekannter Fotograf, übernommen. Das in Kooperation der Stiftung für Kunst und Kultur Bonn mit dem World Remembrance Center Yad Vashem entstandene Ergebnis, Survivors. Faces of Life after the Holocaust, zeigt 75 heute in Israel lebende Holocaust-Überlebende. Ziel war es, den Überlebenden der Shoah ein Gesicht zu geben, sie, ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihre Leidensgeschichte, deren Überwindung (trotz tagtäglicher und allnächtlicher Präsenz des Schreckens und der Verbrechen im Gedächtnis und im Unterbewusstsein) nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Kollektive Verantwortung

Gerade in Zeiten eines weltweit wieder aufkeimenden, ja teilweise sogar epidemisch grassierenden Antisemitismus ist es wichtig, die Gräuel des (oft sträflich geleugneten) Holocausts zu dokumentieren und gleichzeitig die Mechanismen von Faschismus und Populismus, die Folgen von Nationalismus und Rassismus aufzudecken, zu erklären, zu erläutern – und aufzuklären. Vor allem pro futuro gilt es, das Bewusstsein aller Generationen, aller Bevölkerungsschichten zu schärfen, um eine Wiederholung zu verhindern. Wehret den Anfängen, im Alltag, im politischen Dialog wie auch im privaten Zusammenleben!

Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zollt (in seinem Vorwort für Martin Schoellers Buch) den Geschmähten, den Verfolgten, den Vertriebenen, den Exilanten sowie den Millionen Ermordeten, allen Opfern, Respekt und Anerkennung. Er erinnert an die kollektive Verantwortung einer Gesellschaft für das Individuum und für Minderheiten.

Angela Merkel wird, auch um ein Zeichen zu setzen, die im Vorfeld des Jahrestages der Auschwitz-Befreiung am 27. Jänner vor 75 Jahren von der Unesco in Essen gezeigte Ausstellung, gemäß ihrer Funktion als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, eröffnen. Das ist aber weit mehr als nur ein offizielles Statement.

Stellvertretend für die vielen Millionen Opfer in den als Arbeitslager getarnten Vernichtungslagern des verbrecherischen NS-Regimes porträtierte Martin Schoeller 75 heute in Israel beheimatete Überlebende des Holocaust. In Würde und Demut.
Foto: Martin Schoeller

Bekannt wurde der 1968 in Frankfurt am Main geborene Martin Schoeller, der heute, nachdem er drei Jahre bei Annie Leibovitz Assistent war, im New Yorker, in Time, National Geographic, GQ, Vogue und Harpers Bazaar publiziert, durch seine Close-up-Porträts von internationalen Politikern, Entertainern, Stars und Celebritys.

Strenger Formalismus

Das Interessante, und gleichzeitig das Irritierende an Martin Schoellers Porträts ist der strenge, starre Formalismus: Martin Schoeller verwendet für seine Close-ups stets dieselbe Technik. Er misst die Augenhöhe seines Gegenübers und bringt dann die Kameralinse exakt auf gleiche Höhe. Statt eines Kamerablitzes verwendet Schoeller weiches Neonlicht. Über seine Arbeitsweise sagt er: "Ich behandele sie alle gleich, ob Promi oder Freund oder ein Obdachloser von der Lower East Side. Sie kriegen dasselbe Licht, denselben Hintergrund, dieselbe Kamera, dieselbe Behandlung."

Das funktioniert bei Politikern und Staatsmännern vorzüglich, es entlarvt die kalten Machtmenschen in ihrer glatten Fassade. Man erwartet nicht, hinter die Maske des Offiziellen sehen zu können. Diese reine Dokumentation mit bewusst emotionsloser Mimik, dieses Kategorisieren, dieses Katalogisieren hat aber gerade bei Überlebenden, bei Opfern des Holocaust etwas zutiefst Befremdliches.

Bis zu einem gewissen Grad besteht die Gefahr, dass dieser strenge Formalismus die eigentlich positive Intention konterkariert, weil sie kaum einen wirklichen, weil sie leider keinen tiefschürfenden Blick in die Seele der Porträtierten erlaubt. Das Unaussprechliche bleibt unausgesprochen. Das Unbegreifliche bleibt unbegreiflich. (Gregor Auenhammer, ALBUM, 20.1.2020)