Dass gewisse Dinge, die man sich denkt, nicht ausgesprochen werden dürfen, ist so alt wie die Menschheit. Religionen sind voll von Sprachtabus, begonnen mit dem Namen Gottes in der Bibel. Gotteslästerung gilt in weiten Teilen der Welt noch immer als Verbrechen, und selbst milde Formen der Majestätsbeleidigung werden in Thailand mit jahrelanger Haft bestraft. In früheren Generationen wurde Kindern genau eingeschärft, was sich zu sagen ziemt und wofür ihr Mund mit Seife ausgewaschen wird. Flüche in allen Sprachen entstanden aus einer Rebellion gegen diese Form der religiösen oder kulturellen Zensur, weshalb sie sich oft auf Gott, Teufel, Ausscheidung oder Sexualität beziehen.

Auch als Podcast: Maria von Usslar erklärt die Intention politischer Korrektheit und ob sie die Meinungsfreiheit gefährdet.

Anders als in rechten Kreisen behauptet, ist Sprache heute freier denn je, gibt es weniger Verbote und soziale Konventionen. Was die formalen und informellen Sprachregeln, die heute unter dem Begriff "Political Correctness" (PC) laufen, von traditionellen Tabus unterscheidet, ist, wer damit geschützt werden soll: nicht mehr die Mächtigen wie Gott, Kaiser oder Beamte, sondern die Schwachen der Gesellschaft – religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten, Frauen, oder Menschen, die einfach vom Schicksal benachteiligt sind. Das ist die Folge einer humanistischen Revolution, die im Westen in den 1960er-Jahren einsetzte und seither ständig an Kraft gewinnt. Was sich hier in der Sprache niederschlägt, ist einer der großen Fortschritte unserer Zeit.

Doch weil es nicht nur um Worte geht, sondern auch um soziale, ökonomische und politische Realitäten, stößt diese Entwicklung auf massiven Widerstand – vor allem unter weißen, heterosexuellen Männern. Sie sehen jahrhundertealte Vorrechte in Gefahr und schießen sich mit Zorn und Kalkül stellvertretend auf die neuen formellen und informellen Sprachregeln ein.

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Donald Trump ist rassistisch und sexistisch – und profitiert vom Backlash gegen Political Correctness.
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Kulturelle Kriegsführung

PC wurde in den 1980er-Jahren in den USA als konservativer Kampfbegriff gegen linke Strömungen an den Universitäten geprägt, die den Lehrstoff von der Vorherrschaft der "dead white European males" befreien wollten. Sie stürzten sich auf Einzelfälle und präsentierten diese als Generalangriff auf die Freiheit von Wissenschaft und Meinung. Dieses Muster wird bis heute verfolgt: Man sucht anekdotische Beispiele, die tatsächlich fragwürdig sein können, und verbreitet sie über soziale Medien als Beleg für die Gefahr, die der Gesellschaft von Feminismus, Multikulturalismus und Überfremdung droht.

Zielscheibe ist die angeblich übersensible "Generation Schneeflocken". Diese fordert "Safe Spaces", in denen Frauen oder Minderheiten nicht sexistischen oder rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind; oder Trigger-Warnings bei literarischen Texten, in denen es um sexuelle Gewalt geht – was Frauen, die selbst Übergriffe erlebt hatten, als traumatisch empfinden können. Das mag Außenstehenden als übertrieben erscheinen, aber weder ist es so weit verbreitet, wie Polemiker behaupten, noch richtet es Schaden an. Und ob gewisse Begriffe verletzend sind oder nicht, können Betroffene am besten entscheiden.

Doch nach und nach übernahm die Linke den PC-Begriff selbst und ging in die Offensive über: Ziel ist nicht nur der Schutz der Schwachen durch robuste soziale Normen, sondern auch die konsequente Ausgrenzung und Bestrafung derer, die gegen Tabus verstoßen. Dabei werden verbale Ausrutscher mit tatsächlichen sexuellen Übergriffen oder rassistischen Handlungen vermengt – und die Prangerwirkung der sozialen Medien erlaubt es, auch ohne objektive Beweisführung die gesellschaftliche und berufliche Existenz von Verdächtigen zu vernichten. "Call-out Culture" oder "Cancel Culture" hat einer kulturellen Kriegsführung den Weg geebnet, die vor allem prominente Männer hart trifft. Aber auch weniger Privilegierte können durch ein falsches Wort oder einen unbedachten Tweet in Schwierigkeiten geraten.

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Rassistischer Jugendspaß wurde Kanadas Premier Justin Trudeau fast zum Verhängnis.
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Rückendeckung für Donald Trump

Das gefährdet zwar nicht die Meinungsfreiheit – die ist gerade im Internet so groß wie nie. Aber es schränkt die Meinungsvielfalt ein und erschwert einen offenen qualitätsvollen Diskurs zwischen Menschen mit unterschiedlichen Positionen und Erfahrungen, die dazu beitragen kann, einen besseren gesellschaftlichen Konsens zu finden. Und es leistet den Rechtspopulisten Vorschub, die sich mit aggressiver Rhetorik als Opfer von Zensur und Gedankendiktatur stilisieren können. Der meist mit guten Absichten geführte Kulturkampf hat den Aufstieg von Donald Trump gefördert und bringt auch europäischen Rechtspopulisten Stimmen. Er wirkt als emotionaler Katalysator für latente Ressentiments.

Besonders problematisch wird es, wenn die Redefreiheit ins Visier der Aktivisten gerät, wenn an Universitäten Auftritte von Rednern mit umstrittenen oder gar unappetitlichen Ansichten verhindert werden – nicht nur in den USA, sondern zuletzt immer öfter auch in Deutschland und Österreich. So wollten Aktivistinnen und Aktivisten an der Uni Wien zuletzt die Feministin Alice Schwarzer wegen antiislamischer Rhetorik oder den rechtsnationalen Historiker Lothar Höbelt nicht reden lassen.

Ein weiteres Phänomen ist die Ausweitung der Schuldzuweisungen auf weit zurückliegende Fehltritte und indirekt Beteiligte. So kosteten Bilder, die den jungen Justin Trudeau mit braun oder schwarz angemaltem Gesicht zeigten, dem kanadischen Premier im Vorjahr fast sein Amt.

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Starautorin J. K. Rowling wurde in einer Kontroverse um Transsexualität angegriffen.
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Zum Rücktritt gezwungen

Die Harry Potter-Autorin J. K. Rowling wurde in den sozialen Medien heftig angefeindet, als sie sich für eine US-Analystin einsetzte, die von ihrem Arbeitgeber entlassen wurde, weil sie in einem Tweet Transsexualität infrage gestellt hatte. Der prominente liberale Publizist Ian Buruma verlor nach nur einem Jahr seine Stelle als Chefredakteur der New York Review of Books, weil er den Essay eines Hörfunkmoderators veröffentlicht hatte, der zahlreicher sexueller Übergriffe beschuldigt worden war, vor Gericht aber freigesprochen wurde.

Am Höhepunkt der #MeToo-Debatte wurde der demokratische Senator und Ex-Kabarettist Al Franken, der stets für Frauenrechte eingetreten war, zum Rücktritt gezwungen – wegen eines Fotos von einer früheren Auslandstournee, auf dem er mit einer obszönen Geste gegenüber einer schlafenden Kollegin zu sehen ist. Hier findet eine Ausgrenzung in den progressiven Reihen statt, die deren zentralen Anliegen keinerlei Nutzen bringt.

Auch ob der Startenor Plácido Domingo tatsächlich die öffentliche Ächtung in der US-Musikwelt aufgrund der ihm vorgeworfenen Übergriffe verdient hat, ist wie bei einigen anderen #MeToo-Verdächtigen völlig unklar. Zuerst wird das Urteil vollstreckt, erst dann folgt die Untersuchung.

Eine aggressive PC-Debatte spielt den Hetzern in die Hände und konterkariert das Ziel einer möglichst respektvollen Gesellschaft. Die Rückbesinnung auf den Grundgedanken, die Verwundbaren zu schützen, würde allen guttun. (Eric Frey, 18.1.2020)