Bürgerräte stünden nicht in Konkurrenz zum Parlament.

Foto: Matthias Cremer

Die neue Regierung positioniert sich als Servicedienstleister. Was in ihrem Regierungsprogramm aber völlig fehlt, sind Vorschläge für eine Demokratiereform, die uns als mündige Bürgerinnen und Bürger einbezieht.

Der One-Stop-Shop, also die Möglichkeit, mehrere bürokratische Prozesse an einer Stelle zu erledigen, taucht 13-mal an unterschiedlichen Stellen als Tischlein-deck-dich der Verwaltungsinnovation auf. Sosehr ich mich freue, in Zukunft beim Amtsweg nicht mehr als Bittsteller behandelt zu werden, wir brauchen im 21. Jahrhundert keine Demokratie, die uns wie Kunden behandelt.

Unsere repräsentative Demokratie muss sich im Zeitalter der Klimakrise und Digitalisierung erneuern, um bestehen zu können. Wählerapathie, Verlust des Vertrauens in die Politik, vor allem aber auch die Komplexität der Probleme, die zu meistern sind, werden in den kommenden Jahren weiter zunehmen.

Digitale Prozesse

Andere Regierungen in Europa haben das begriffen und setzen von digitalen Gesetzgebungsprozessen über Bürgerhaushalte bis hin zu per Losverfahren ausgewählten Bürgerräten auf neue Formen, das Wissen und die Ideen von Bürgerinnen und Bürgern einzubeziehen, vor allem aber auch politische Entscheidungsprozesse transparenter und nachvollziehbarer zu machen.

Das Desinteresse der aktuellen Bundesregierung am Thema mag unterschiedliche Gründe haben. Für die ÖVP ist es wahrscheinlich die Angst vor Macht- und Kontrollverlust, für die Grünen mögen es traumatische Erfahrungen mit fehlgeleiteter parteiinterner Mitbestimmung sein. Faktum ist: Demokratieinnovation ist nicht vorgesehen.

Dabei werden komplexe und konfliktgeladene Vorhaben wie die Dekarbonisierung, eine Ökologisierung der Wirtschaft und der Ausbau von öffentlicher Verkehrs- und alternativer Energieinfrastruktur nur gelingen, wenn man die Menschen in die Ausgestaltung des Wandels einbezieht, übermächtige Interessenverbände und Lobbys unterschiedlicher Couleur in die Schranken weist und Selbstorganisation von unten fördert.

Neue Formen der Mitentscheidung

Besonders das ausgereifte Modell des Bürgerrats zeigt vor, dass neue Formen der Mitentscheidung in keiner Konkurrenz zur Arbeit des Parlaments stehen, sondern diese ergänzen. Irland, das schon 2012 einen ersten Bürgerrat zu Fragen der Verfassungsreform einberufen hat, initiiert mit Jahresbeginn unter einer konservativen Regierung bereits die dritte "Citizen Assembly" in Folge, diesmal um Reformvorschläge zur Gleichstellung von Frauen zu erarbeiten. Alleine im vergangenen Jahr haben die autonome Region Ostbelgiens, Schottland sowie Frankreich offizielle Bürgerräte einberufen. In Frankreich widmet sich der über mehrere Wochenenden bis April 2020 tagende Rat aus 150 per Los ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern übrigens der Frage, wie ein sozial gerechter Kampf gegen den Klimawandel aussehen kann. Es waren die Gelbwestenproteste, die Präsident Emmanuel Macron klargemacht haben, dass sich die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit den Werkzeugen des 20. Jahrhunderts lösen lassen. Die Politik unseres Landes täte gut daran, sich dieses Leitsatzes und damit auch des Themas der Erneuerung politischer Entscheidungsprozesse anzunehmen. (Philippe Narval, 19.1.2020)