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"Die Menschen können zwar eine Diktatur nicht gut ertragen, noch schlechter erdulden sie aber die Freiheit", sagt Wolf Biermann.

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Seinen Vater hat Wolf Biermann kaum gekannt. Der Werftarbeiter – Kommunist und Jude – wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Dennoch prägte er den Dichter und Liedermacher bis heute in seinem Denken und Handeln. Am Sonntag ist Biermann anlässlich des Holocaust-Gedenktags auf Einladung des Psychosozialen Zentrums Esra in Wien. Er spricht im Stadtsaal über sein Überleben in zwei Diktaturen (Beginn 11 Uhr).

STANDARD: Ihr Vater hat als Werftarbeiter Kriegsschiffe sabotiert. Er wurde verhaftet, als Sie ein paar Monate alt waren. Sie haben ihn vor seiner Ermordung 1943 im KZ Auschwitz noch einmal gesehen. Haben Sie noch Erinnerungen an diese Begegnung?

Biermann: Obwohl ich erst viereinhalb Jahre alt war, kommt es mir so vor, als hätte ich es gestern erlebt. In jeder Familie gibt es zwei, drei Geschichten, die immer wieder erzählt werden und die sich ins Gedächtnis eines kleinen Menschenkindes eingravieren.

STANDARD: Was bleibt?

Biermann: Das inspirierende Beispiel eines aufrechten Menschen, der acht Jahre Gefängnis standhaft überlebte und das war, was Heinrich Heine in seinem Gedicht Enfant perdu einen tapferen Soldaten nannte im ewigen Freiheitskriege der Menschheit.

STANDARD: Waren Sie als Erwachsener einmal in der Gedenkstätte in Auschwitz?

Biermann: Nein, ich muss da nicht extra hinfahren. Ich bin schon mein Leben lang in Auschwitz, durch all unsere Familiengeschichten.

STANDARD: Geschichten, die Ihnen Ihre Mutter über das Schicksal Ihres Vaters erzählt hat?

Biermann: Sie hat mir von Anfang an immer wieder alles erzählt, bereits in der Nazizeit. Dabei wusste sie doch, wie gefährlich es war, einem kleinen Kind solche Wahrheiten aufzubürden. Sie tat es mit einer gefährlichen Radikalität. Wahrscheinlich war das eine Möglichkeit für sie, ihren Schmerz zu überwinden. Kinderpsychologen würden darin eine Überforderung des Kindes sehen. Für mich aber war das gut. Es war die emotionale Basis dafür, dass ich mich als junger Mann in der DDR mit den Herrschenden der zweiten deutschen Diktatur so heftig in den Streit einlassen konnte.

STANDARD: Dass Ihre Mutter und Sie die sogenannte Operation Gomorrha, einen schweren Luftangriff der Alliierten auf Hamburg, überlebt haben, verdanken Sie nur einem Sprung ins Wasser.

Biermann: Auch das hat sich in mein Gedächtnis tief eingebrannt. Wir waren im Zentrum des Feuers, in dem 40.000 Menschen verbrannt sind. Der Mut meiner Mutter rettete unser Leben. All die Ausgebombten wurden dann evakuiert. Die Niederbayern in Deggendorf waren nicht gerade entzückt, als die abgebrannten "Saupreußen" aus Hamburg kamen. Die Feuernacht hat mein schweres Asthma ausgelöst. Weil ich aber ein Judenkind war, wurde ich nicht behandelt.

STANDARD: Ihre gesamte jüdische Familie wurde in Minsk ermordet. Sie sagen, es habe niemanden gegeben, der aus Ihnen einen Juden machen konnte. Dafür hat es sich Ihre Mutter zur Aufgabe gemacht, Sie zum Kommunisten zu erziehen.

Biermann: Meine Mutter hatte den kindlichen Ehrgeiz, dass ich meinen Vater rächen solle. Was das konkret bedeutete, wusste sie selbst nicht. Jedenfalls hatte sie niemals den eitlen Wunsch, aus mir einen Dichter zu machen. Sie wollte nur, dass ich die Menschheit rette und den Kommunismus aufbaue. Diesen kleinen Gefallen wollte ich ihr natürlich tun.

STANDARD: Und ihr zuliebe sind Sie mit 16 Jahren freiwillig in die DDR ausgewandert?

Biermann: Nein, das war nicht ihr zuliebe. Sondern wegen der großen, heiligen Sache – für den Kommunismus, für den mein Vater und so viele Menschen gestorben sind. So stellte es sich mir in meinem Kinderkopf dar.

STANDARD: Das wurde auch zu einem Ihrer Motive. Sie haben immer wieder erklärt: Dafür ist mein Vater nicht gestorben.

Biermann: Die meisten meiner gleichaltrigen Freunde waren Kinder von Nazis, sie schämten sich für ihre Eltern. Darum waren sie im Streit mit den Unterdrückern der DDR-Diktatur bescheiden. Sie wollten beweisen, dass sie keine Nazis sind. Ich hatte dieses Problem nicht. Ich sprach mit den Herrschenden der DDR mit der ganzen Anmaßung des rechtmäßigen Erben: "Ich bin der Kommunist – und ihr seid Antikommunisten." Sie können sich ausrechnen, wie begeistert die Bonzen der Partei darüber waren.

STANDARD: 1976 wurden Sie ausgebürgert, sagen aber selbst, dass Sie erst Jahre später den Bruch mit dem Kommunismus schafften.

Biermann: Das kennen Sie doch auch, man hat Sachen im Kopf längst begriffen, die das Herz aber nicht wahrhaben will. Jeder, der einmal Liebeskummer hatte, versteht das. Auch in der Politik gibt es diese Seelenphysik. Ich wollte meinen Vater nicht ein weiteres Mal ermorden, indem ich mit unserem Kommunismus breche. Erst 1983 war es so weit, ich hatte den Mut, ein treuer Verräter zu werden. Wie Sie dunkel ahnen, bin ich deswegen noch lange kein Rechter geworden. Wer wirklich ein Kommunist war, musste mit dem Kommunismus brechen. Das ist der verrückte Widerspruch.

STANDARD: Sie haben zwei Diktaturen erlebt. Gibt es Lehren, die Sie ziehen können?

Biermann: Die Demokratie ist eine gefährdete Gesellschaftsform. Das wusste schon Platon vor 2500 Jahren. Die Menschen können zwar eine Diktatur nicht gut ertragen, noch schlechter erdulden sie aber die Freiheit. Ein Dilemma. Demokratie macht Menschen gedankenfaul und seelenflach, sodass der humane Kern des Systems nicht mehr erkannt, geachtet und verteidigt wird. Und schließlich lassen sie sich in irgendeine neue Diktatur fallen. Entweder nach links oder nach rechts.

STANDARD: Ist das ein Erklärungsansatz dafür, warum die Rechte im ehemaligen Ostdeutschland so viel Zuspruch findet?

Biermann: Straßen, kaputte Häuser und Fabriken können schneller wieder aufgebaut werden als kaputte Menschen. Wenn ein Volk das Unglück hatte, zwei Diktaturen zu erleben, dann prägt das auch noch die folgenden Generationen.

STANDARD: Umgekehrt ist etwa in Deutschland wie auch in Österreich die Sozialdemokratie in der Krise. Warum greift deren politische Idee nicht mehr?

Biermann: Das Schlimme an der Sozialdemokratie ist, dass sie gesiegt hat. Sie hat ihre sozialen Ziele aus dem 19. Jahrhundert erreicht. Die antidemokratischen Kräfte in Europa und in der ganzen Welt haben mal wieder Konjunktur, und zwar paradoxerweise auch bei Menschen, die in einem unglaublichen Wohlstand leben wie wir. Insofern sind grade die Sozialdemokraten notwendig, um diese Not zu wenden.

STANDARD: Zum Schluss eine kurze Frage: Was kann ein Lied, ein Gedicht bewirken?

Biermann: Ist es nicht nur originell, wahrhaft und tapfer, sondern vor allem auch noch schön, dann hält ein Gedicht länger als der Dichter. Dann sind meine Verse auch in anderen Zeiten für spätere Generationen brauchbar. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 22.1.2020)