Es ist noch früh am Morgen. So früh, dass es noch finster ist, als wir drei austro-norwegischen Freunde und unser sibirischer Dolmetscher alle verfügbaren Schichten unserer Winterkleidung im Halbschlaf anziehen. Das Thermometer am Außenfenster zeigt minus 27 Grad. Andrej holt uns mit einem UAZ-Transporter ab, um einen Tag bei ihm und seiner Frau Ludmilla an der Heiligen Nase zu verbringen.

Diese Kleinbusse für bis zu zehn Personen werden auch heute noch mit zwei Schlüsseln gefertigt: einer für den Motor und einer für die Türen, damit der Motor in der winterlichen Kälte auch beim Parken bei abgeschlossenen Türen weiterlaufen kann. Er würde sonst bei diesen tiefen Temperaturen nicht ohne große Mühen wieder anspringen. Und das will sich Andrej natürlich ersparen.

Wir verlassen Ust Barguzin am Ostufer des Baikalsees über die vom harten Schnee buckelige Dorfstraße. In dem spärlichen Straßenlampenlicht huschen die niedrigen Holzhäuser hinter den vereisten Fenstern vorbei. Es ist so kalt, dass über die Motorhaube eine Isolierdecke gespannt ist, damit dem Motor nicht zu rasch die Wärme entzogen wird. Diese wird für den Innenraum benötigt. Paradoxerweise kommt dadurch nach einiger Zeit durch das auf Hochtouren laufende Gebläse fast Sauna-Feeling auf. Jeden Abend genießen wir in den einfachen Unterkünften entlang des Baikalsees diese russische Art der Sauna.

In eiskalter Nacht zur Heiligen Nase.
Foto: Christoph Ruhsam
Motorwärmedecke auf dem UAZ-Transporter.
Foto: Christoph Ruhsam
Monduntergang hinter dem Bergkamm der Heiligen Nase.
Foto: Christoph Ruhsam

In der völligen Isolation

Viel Holz wird nachgelegt, um die Temperatur auf über 100 Grad zu steigern. Dazu setzt man sich einen Filzhut auf, vermutlich, um den Kopf vor diesen hohen Temperaturen zu schützen. Die Temperaturdifferenzen im sibirischen Winter sind unglaublich: Wenn wir uns nach zehn bis fünfzehn Minuten in immer unerträglicher werdende Temperaturbereiche begeben, fliehen wir vor die Hütte und spüren an unserer Haut den Unterschied von mehr als 130 Grad.

Was für ein Gefühl ist es dann, in das frisch gehackte Eisloch des Baikalsees bis über den Kopf einzutauchen: einmal, zweimal und sogar ein drittes Mal. Mit lautem Prusten klettern wir die alte Eisenleiter aus dem Loch wieder in die trockene, minus 20 Grad kalte Abendluft. Dabei bildet sich zwischen den nassen Händen und den Eisensprossen sofort eine Eisschicht, die die Finger daran kleben lässt.

Eisbad bei minus 20 Grad.
Foto: Christoph Ruhsam

An diesem Morgen hat es im UAZ gute 60 Grad mehr als draußen in der Taiga, durch die wir über eine wilde Schneepiste entlang der Ostküste des Baikalsees rumpeln. Das Ziel ist uns nicht ganz klar, aber eine kleine Siedlung in der Chivyrkuyskiy-Bucht wird angepeilt, in der Andrej und Ludmilla als letzte Einwohner ihr dauerhaftes Zuhause haben. Alle anderen Bewohner sind über die letzten Jahre weggezogen, haben sich bessere Unterkünfte in Ust Barguzin geschaffen. Zu entlegen ist dieser Teil der Halbinsel Swjatoj Nos – Heilige Nase –, die mächtig in den Baikalsee hineinragt und mit bis zu 1.800 Metern Höhe ein kleines Hochgebirge darstellt und zum Nationalpark Zabaykalskiy gehört.

In der beginnenden Morgendämmerung hebt sich die völlig weiße Gebirgskette vom dunklen Blau des sternenklaren Himmels ab. Andrej bleibt auf unsere Bitte hin in der völligen Isolation stehen. Der Vollmond steht direkt über dem Bergkamm und sendet fast blendendes Licht auf die sibirische Taiga, die sich mit Silber überzieht, welches von der Schneedecke zart reflektiert wird.

Was macht Winter überhaupt zu einer so besonderen Jahreszeit? Es ist laut Barbara Schaefers Buch "Winter" der völlig neue Aggregatzustand des gefrorenen Wassers, der die Welt verzaubert und den Winter von den anderen drei Jahreszeiten klar unterscheidet. Wir betreten damit auch gewissermaßen Neuland, denn durch jeden Schneefall werden bestehende Spuren und Strukturen sanft zugedeckt und für neue Entdeckungen vorbereitet.

Chivyrkuyskiy-Bucht kurz vor Sonnenaufgang.
Foto: Christoph Ruhsam
Chivyrkuyskiy-Bucht.
Foto: christoph ruhsam
Verlassene Siedlung an der Chivyrkuyskiy-Bucht.
Foto: Christoph Ruhsam

Opfer im Eis

Das Knirschen des kalten Schnees mischt sich mit dem Brummen des laufenden Motors, der bei diesen Temperaturen nicht abgeschaltet werden kann. Der Vollmond steht wie eine goldene Scheibe direkt auf dem Bergkamm. Noch ist die Sonne nicht zu sehen. Wir haben noch mehr als eine Stunde Zeit, den idealen Platz für den Sonnenaufgang zu suchen. Andrej spricht nicht Englisch, macht uns aber auf Russisch und mit Gesten klar, dass wir weiterfahren sollten. Slawi, unser Dolmetscher, ist da auch nicht von großer Hilfe, da sein Englisch entgegen allen Versprechungen eine Konversation nur bedingt erlaubt.

Die Piste durch den Wald ist nun besser zu erkennen, und die Scheinwerfer erzeugen nicht mehr den Tunnelblick in der weichenden Dunkelheit, dem wir zuvor ausgesetzt gewesen sind. Ein Schamanen-Opferplatz taucht unerwartet auf, und wir werden aufgefordert mitzukommen.

Boote am Strand der winterlichen Bucht.
Foto: Christoph Ruhsam
Sibirische Holzhäuser.
Foto: Christoph Ruhsam

Der geschnitzte Schamanenkopf auf einer der Holzsäulen wurde von den opfernden Menschen reich beschenkt mit Tüchern, heiligen Sprüchen und Wertvollem: Speisen, Süßes und Zigaretten sind den Menschen hier offensichtlich viel wert.

Schamanenverehrung.
Foto: Christoph Ruhsam
Schamanismus verschmilzt mit Buddhismus.
Foto: Christoph Ruhsam

Die religiösen Vorstellungen in ihrem Mix aus orthodoxem Christentum, burjatischem Buddhismus und schamanischen Naturgöttern verschmelzen in der Kälte der sibirischen Taiga am Beginn eines neuen Tages und bereiten den Raum für eine universelle spirituelle Gegenwärtigkeit, die unsere rationalen Gedanken und Zweifel für diesen Moment verblassen lassen. (Christoph Ruhsam, 24.1.2020)