Im Gastkommentar repliziert der Politikwissenschafter Arno Tausch auf Paul M. Zulehner (Die Kopftuchkränkung und ihre fatalen Folgen) und bringt Daten des neuen Arab Barometer 2018–2019 in die Debatte ein.

Während in Österreich endlose und letztlich nutzlose und uninformierte Debatten über Kopftücher und angebliche Worte oder Unworte wie den "Politischen Islam" geführt werden, bietet der Arab Barometer ungeschminkte, nach rechts und links vorurteilsfreie Daten über die real existierenden Meinungsprofile der arabischen Welt. Dieser Tage wurden die Daten der Erhebung 2018–2019 der Forschungswelt gratis zur Verfügung gestellt. Gute und anerkannte Daten gibt’s also genug, und es ist Zeit, über die wirklichen Probleme zu reden.

Internationales Forschungsteam

Das Forschungsteam, das heute für den allen Regeln moderner repräsentativer Meinungsforschung genüge tuenden Arab Barometer verantwortlich zeichnet, umfasst unter anderem Mark Tessler von der University of Michigan sowie die der "Islamophobie" kaum zu bezichtigenden Forschungspersönlichkeiten aus der arabischen Welt wie Amaney Jamal, Professorin der Politikwissenschaft in Princeton, Khalil Shikaki, der Direktor des Palestinian Center for Policy and Survey Research, Darwish Al-Emadi, Chief Strategy & Development Officer an der Qatar University, und Musa Shteiwi, Professor an der University of Jordan.

Zu den vom Team erarbeiteten Fragen bezüglich des im Arab Barometer klar und explizit bezeichneten "Politischen Islam" gehören die Einstellungen zur gewünschten oder abgelehnten Einmischung religiöser Führer bei Wahlen, zur Wünschbarkeit von religiösen Führern in politischen Ämtern oder des Einflusses religiöser Führer bei politischen Entscheidungen, die Frage nach der privaten Natur der religiösen Praxis und schließlich die Frage, ob religiöse Führer korrupter oder weniger korrupt sind als nichtreligiöse politische Führer.

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"Das sind unsere Frauen" steht in der Sprechblase dieses Graffiti nahe dem Tahrir-Platz in Bagdad. Vorbild ist ein Poster aus dem Zweiten Weltkrieg, das zum Symbol für Feminismus wurde. Der Slogan damals lautete allerdings: "We Can Do It!" – "Wir können es schaffen!".
Foto: AP / Khalid Mohammed

Besonders spannend sind die Ergebnisse bezüglich der Interpretation des Islam in der Region: Sollen Muslime mehr Rechte haben als Nichtmuslime; ist die Verschleierung (Hijab) vom Islam gefordert oder nicht; dürfen Banken Zinsen verrechnen; hat die Scharia Vorrang vor dem Willen des Souveräns; soll der Vollzug des islamischen Rechts mit Körperstrafen verbunden sein; muss die Scharia die Rechte der Frauen beschränken oder nicht.

Schlechter Vergleich

Das ist gerade auch deshalb interessant, weil der international anerkannte katholische Theologe und Sozialforscher Paul M. Zulehner, mit dem ich 2000 einen Sammelband über Befreiungstheologie publizierte, im Diskurs über den "Politischen Islam" diesen Begriff als "Unwort" erklärte und meinte, schließlich kenne man/frau ja auch im katholischen Raum eine "Politische Theologie", sei es mir erlaubt, auf die vom Arab Barometer erhobenen Daten zum "Politischen Islam" näher einzugehen.

Kollege Zulehner weiß ja sehr gut, und wir haben das auf 332 Seiten in New York eingehend dargelegt, dass die von ihm erwähnte "Politische Theologie" von Johann B. Metz (1928–2019) und die späteren Befreiungstheologien ein Versuch waren, Elemente der "Kritischen Theorie" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und zahlreiche Elemente der politischen Ökonomie der Unterentwicklung in das katholische Denken einzuführen.

Bekenntnis gegen säkulare Republik

Der Punkt ist nur, dass solch ein theologisches Denken nichts, aber auch wirklich nichts mit dem heutigen "Politischen Islam" zu tun hat, der auf die antisemitische Ideologie von Hasan al-Banna (1906–1949) und die von ihm begründete Muslimbruderschaft zurückgeht. Gustavo Gutiérrez und all die anderen Theologinnen und Theologen des katholischen Südens wollten und wollen ja keine Scharia mit Körperstrafen und eine Herrschaft der Mullahs. Das ist unter anderem, was diese politischen Theologien vom "Politischen Islam" unterscheidet. Gutiérrez und die Theologien des globalen katholischen Südens haben auch nichts mit Millî Görüs, Necmettin Erbakan (1926–2011) und dem türkischen Islamismus zu tun, die allesamt die Grundlagen der säkularen türkischen Republik, ausgehend von der Aushöhlung des Kopftuchverbots unter Recep Tayyip Erdogan, zu untergraben im Stande waren. Der Turban ist und bleibt vor allem ein Bekenntnis gegen die säkulare Republik Mustafa Kemal Atatürks.

Wie die profunden und weit verbreiteten sozialwissenschaftlichen Arbeiten von Angel Rabasa (über den Aufstieg des "Politischen Islam" in der Türkei), Gilles Kepel (über den "Politischen Islam" und den Djihad), Joel Beinin und anderen hinlänglich bewiesen haben, sind Forschungen und auch politische Strategien gegen den "Politischen Islam" nicht nur notwendig, sondern eine Überlebensfrage der Länder, die heute auf der Welt noch als "frei" eingestuft werden.

Krude Ansichten

Interessant ist im Kontext auch, welche Meinungsprofile laut Arab Barometer länderübergreifend jene 11,20 Prozent der befragten Araber haben, die gern nach Deutschland auswandern würden. In Marokko, Algerien und im Irak sind das ja weit über je 15 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Für die staatliche Scharia mit Körperstrafe sprechen sich in Algerien 42,1 Prozent aus, unter den Ausreisewilligen 27,7 Prozent. In Marokko sind es 38,5 bzw. 40,6 Prozent, im Irak 21,4 bzw. 33,3 Prozent, in Tunesien 18,7 bzw. 11,4 Prozent. Gegen gleiche Rechte für Nichtmuslime sprechen sich in Algerien 37,9 Prozent aus, unter den Ausreisewilligen 35,3 Prozent. Im Irak sind es 22 bzw. 19,1 Prozent, in Gaza und Westbank 26 bzw. 32,6 Prozent.

Ein ähnliches Bild eines "Politischen Islam" ergibt sich auch bei anderen Themen des Fragebogens: Unter den nach Deutschland Ausreisewilligen sind länderübergreifend 4,50 Prozent sehr stark dafür, und 23,80 Prozent sind dafür, dass religiöse Führer an die Macht kommen; in der Gesamtbevölkerung sind das länderübergreifend sogar noch 8,60 Prozent (sehr stark) und 26,90 Prozent (zustimmend).

Basis des Rechtstaats

Der weltbekannte österreichische und von der radikalen antisemitischen Rechten in unserem Land immer wieder angefeindete Jurist Hans Kelsen (1881–1973) begründete seinerzeit die absolute Notwendigkeit, den Rechtsstaat auf dem positiven Recht und nicht auf dem religiösen Gesetz zu basieren. Aber länderübergreifend sind 23 Prozent der Araber sehr dafür und 16,80 Prozent dafür, dass die Scharia, also das religiöse Recht, über dem Willen des Volkes steht. Bei den nach Deutschland Ausreisewilligen sind es immerhin noch 14 Prozent (stark dafür) und 14,30 Prozent (dafür).

Die Daten des Arab Barometer zeigen zwar, dass in der arabischen Welt die Macht der islamistischen Bewegungen sinkt, dass aber die Wachsamkeit gegenüber dem "Politischen Islam" weiter sehr angebracht ist. (Arno Tausch, 22.1.2020)