Verloren irrt das kleine Mädchen durch die Menschenmenge. Obwohl es in der sinkenden Wintersonne der Côte d'Azur einen Riesenschatten wirft, nimmt niemand Kenntnis von ihm. Eine Kamera schon. Knapp zwei Kilometer weiter vermeldet der Stadtpolizist vor seinem Kontrollschirm trocken: "Die gesuchte Person ist lokalisiert."

Experiment gelungen: Unter ungefähr 5000 Karnevalbesuchern spürte das Zentrum für städtische Überwachung (CSU) im vergangenen Februar das gesuchte Mädchen im Nu auf. "Es war in Wahrheit meine eigene Tochter, die sich für den Versuch zur Verfügung gestellt hatte", schmunzelt Sandra Bertin von der CSU-Leitung. "Dank der digitalen Gesichtserkennung dauerte es nur ein paar Minuten, bis wir sie mithilfe eines lapidaren Passfotos gefunden hatten."

Auch andere Freiwillige wurden mithilfe von teilweise zehn Jahre alten Fotos aus der Menge gefischt. Die Polizeivizechefin ist ganz begeistert von der Gesichtserkennungssoftware der israelischen Firma Anyvision: "Stellen Sie sich vor, wie nützlich es ist, Echtzeit Kleinkinder oder Alzheimerpatienten aufzuspüren, aber auch Verbrecher oder Terroristen."

Das Wort Terroristen hat in der 340.000-Einwohner-Stadt Nizza einen besonderen Klang: An der Promenade des Anglais fuhr am 14. Juli 2016 während des Fests zum Nationalfeiertag ein Attentäter mit einem Laster in die Menge, 86 Menschen kamen dabei zu Tode. Heute finden sich keine Spuren mehr entlang des berühmten Kiesstrands. Oder doch: Die Flaniermeile wird nun gesäumt von hübschen Lauben mit seltsam breiten Betonfüßen. Ebenso wuchtige Pflöcke versperren die Zufahrt. Sie lassen sich aus dem Kontrollzentrum der Stadtpolizei per Joystick senken und hochfahren. Eine der derzeit 2682 Überwachungskameras in den Straßen von Nizza ist permanent darauf gerichtet.

"Wir sind nicht in China"

2682 Kameras – eine gewaltige, europaweit rekordverdächtige Zahl. "Und während wir reden, ist sie schon überholt", freut sich Sandra Bertin. "Jeden Monat nehmen wir ein paar neue in Betrieb." Nizza treibt den "Videoschutz", wie er hier genannt wird, weiter als andere Städte, und das nicht erst seit dem mörderischen Anschlag von 2016. Ein Überwachungsstaat im Kleinen? Bertin schüttelt entrüstet den Kopf: "Wir sind doch nicht in China! Wir wollen die Bürger nicht überwachen, wir wollen nur die Kriminalität bekämpfen."

Doch wo liegt die Grenze? Die Antwort muss offenbleiben, denn jetzt kommt Bewegung in den verdunkelten Bildschirmsaal des CSU, wo sich über 60 städtische Schauplätze auf einmal verfolgen lassen. "Verstärkung zum Bahnhof!", ruft eine der 90 Angestellten – Frauen gelten hier als bessere Beobachterinnen als Männer – ins Mikrofon. Sie zoomt mit ihrem Joystick auf eine Seitenstraße. Die nächste Patrouille macht sich auf. Bald ist die Situation unter Kontrolle, es war nur eine Schlägerei zweier Betrunkener.

Sandra Bertin hat noch ein paar vergangene Actionszenen im Kasten. Eine zeigt zwei Diebe, die einem Touristenpaar an der "Prom", wie Promenade des Anglais hier genannt wird, 4100 Euro abnehmen. Dank des dichten Kameranetzes lässt sich ihre Flucht auf einem Motorroller durch die halbe Stadt verfolgen. Und die dramatische Festnahme durch die Polizei. Eine andere Kamera filmte, wie zwei Jungs bei Rotlicht einen Pkw ausraubten. Die in Echtzeit gefilmte Szene ermöglichte es einer nahen Patrouille, die Täter zu fassen.

Überwachung in Nizza.
Foto: Stefan Brändle

Dank sei der Videoüberwachung

"Seitdem wir auch in der Tramlinie 1 Kameras installiert haben, sind die Taschendiebstähle dort um die Hälfte zurückgegangen", weiß Bertin. Das in Nizza gleichermaßen verpönte und verbreitete Parken in zweiter Spur habe ganz aufgehört. Das alles dank der Videoüberwachung.

"Aber den Terroranschlag hat sie nicht verhindert", korrigiert Henri Busquet von der lokalen Menschenrechtsliga. Sein südfranzösischer Akzent verhärtet sich, als er davon erzählt, wie Bürgermeister Christian Estrosi noch ein Jahr zuvor geprahlt habe, in Nizza wären die Pariser Charlie Hebdo-Attentäter des Jahres 2015 "schon bei der dritten Ampel gefasst" worden. "Gegen den Lastwagenfahrer war das städtische Kameranetz aber wirkungslos", sagt Busquet. "Und nicht nur dagegen."

Für Sandra Bertin jedoch ist genau das nur ein Grund dafür, noch weiter zu gehen: "Mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, hätten die Videokameras gegen das Attentat hilfreich sein können", glaubt sie. "Etwa mit einem Algorithmus, der ein auffälliges oder sonst wie abnormales Verhalten weitermeldet, wie zum Beispiel Erkundungsfahrten per Laster."

Die Stadtpolizei von Nizza hat schon diverse Experimente durchgeführt, und sie sind laut Bertin technisch erfolgreich verlaufen: Neben der Gesichtserkennung beim Karneval wurde auch die rundum automatische Verfolgung eines Verdächtigen durch das flächendeckende Kameranetz geprobt. Es funktionierte. Sogar die "Gefühlsanalyse" auf den Gesichtern von Straßenbahnpassagieren wurde geprüft. Überraschung, Angst oder Wut könnten helfen, einen Alarm auszulösen, meint die Polizistin.

Angst vor Missbrauch

Aktivist Busquet hat mehrere Einwände. Was, wenn ein einziger Passant in der Menge nicht damit einverstanden ist, gefilmt zu werden? Und: Was ist schon ein "abnormales Verhalten"? "Die Gesichtserkennung könnte auch bei einer politischen Protestdemo zum Einsatz kommen", glaubt der Menschenrechtskämpfer und erzählt, die oberste Chefin des CSU sei eine gute Freundin von Bürgermeister Estrosi.

Der konservative Stadtchef, der im März die Wiederwahl anstrebt, wird derzeit noch von der Nationalen Kommission für Informatik und Freiheit (CNIL) gebremst. Das Gremium aus Paris ist nicht generell gegen die Gesichtserkennung, macht sie aber vom Erlass eines verbindlichen Datenschutzgesetzes abhängig. Solange die Frage der Datenspeicherung nicht geklärt ist, wünscht die CNIL auch keine Experimente mehr. Estrosi, der ebenfalls eine gesetzliche Regelung verlangt, versichert dagegen, dass beim Karneval von Nizza kein Gesicht länger als 0,2 Sekunden festgehalten worden sei.

Busquet will das nicht glauben. Mit seiner Skepsis steht er in Nizza aber fast so allein da wie das Mädchen im Karnevalsexperiment. Die Mittelschule Les Eucalyptus im Westteil der Stadt installierte unlängst die Gesichtserkennung, um den Zutritt zum Schulareal zu regeln. Freiwillige Tester fanden sich problemlos. Vor Ort meint eine 17-Jährige schulterzuckend, während ihre Freundinnen nicken: "Unsere Bilder zirkulieren ohnehin überall." Mit "überall" meint sie die sozialen Medien.

Auf der Promenade des Anglais stehen Passanten seit dem Anschlag von Nizza im Jahr 2016 unter verschärfter Kontrolle. Kritiker laufen dagegen Sturm, doch die Behörden wollen noch weiter gehen.
Foto: AFP / Valery Hache

EU-Direktive

Die CNIL stoppte den Versuch nach Einwänden der Menschenrechtsliga sowie eines Elternverbands und des Netzwerks La Quadrature du Net. Mittelschüler digital zu registrieren, nur um die Zutrittsformalitäten zu beschleunigen, sei nicht "verhältnismäßig", meint der Menschenrechtler Busquet. Diese Vorgabe sei überdies in einer verbindlichen EU-Direktive enthalten.

Das dringt aber bisher nicht an die französische Riviera durch, wo viele sicherheitsbedürftige Rentner ihren Lebensabend fristen. Im Lokalzug, der die malerische Küste entlangfährt, erklingt alle paar Minuten die Durchsage: "Die Bahn informiert Sie, dass dieser Wagen mit einer Überwachungskamera ausgerüstet ist."

Halt in Mandelieu-la-Napoule, einem schicken Vorort von Cannes mit 23.000 Einwohnern, wo ebenfalls jede Menge Kameras installiert wurden. Vizebürgermeister Guy Villalonga, zuständig für Sicherheit, deklamiert im kommunalen Überwachungszentrum, hier gelte "null Toleranz". Zu diesem Zweck wurden in Mandelieu unter anderem sprechende Kameras eingeführt. "Guten Tag, hier ist die Stadtpolizei", sagt die freundliche Polizistin vor der Bildschirmwand via Lautsprecher zu einem Hundehalter im Stadtpark. "Bitte sammeln Sie den Hundekot ein. Vielen Dank."

Streit um Statistik

Der Ertappte fragt sich offenbar nicht einmal mehr, woher die unsichtbare Stimme eigentlich kommt; schuldbewusst senkt er den Blick und bückt sich, um sein Aufräumgeschäft zu erledigen. Bestraft werde nur, wer die Faust in Richtung Kamera mache und sich davonstehle, meint Villalonga. Aus der kommunalen Verbrechensstatistik des abgelaufenen Jahres liest er vor: "Dank der Kameraüberwachung ist die Zahl der Einbrüche und der Diebstähle um insgesamt 49 Prozent zurückgegangen. 76 Missetäter sind – in flagranti oder nicht – festgenommen worden."

"Wirklich?", fragt Martin Drago vom kritischen Pariser Netzwerk La Quadrature du Net zurück. "Bisher hat keine Studie den Beweis erbracht, ob und wie Gesichtserkennung oder auch nur Kameraüberwachung die reale Sicherheit der Bürger erhöht", meint der Jurist. Trotzdem propagieren die Softwareanbieter ihr Smart-City-Konzept der künstlichen Intelligenz im urbanen Raum. Die Firma Two-i, die in der ostfranzösischen Stadt Metz Algorithmen zur Bestimmung von Gefühlen auf Gesichtern entwickelt, hat das Experiment in der Tram von Nizza durchgeführt und offeriert auf ihrer Website "unbegrenzte" Möglichkeiten der Gesichts- und Gefühlserkennung. Mit dem STANDARD wollten Firmenvertreter darüber nicht reden.

Biometrische Identität

Das aktuelle Hauptproblem der Gesichtserkennung ist laut Drago die fehlende Transparenz: "Wer befindet über den Einsatz der Gesichtskontrollen? Und über die Speicherung der Daten? Diesbezüglich herrscht völliger Nebel."

Und zwar nicht nur in Nizza. In Paris will Präsident Emmanuel Macron in Kürze das Projekt "Alicem" lancieren, nach eigener Darstellung das "europaweit erste staatliche Programm zur Schaffung einer biometrischen Identität". Die Gesichtsdaten sollen dabei Login und Passwort überflüssig machen, wenn nicht sogar ganz ersetzen. Das entsprechende Experiment läuft seit einem halben Jahr – laut Innenministerium zur vollen technischen Zufriedenheit.

Kritik daran wird kaum laut. In Frankreich sei man seit den Zeiten von Ludwig XIV. oder Napoleon daran gewohnt, dass die Pariser Zentralmacht das Volk überwacht, bedauert Drago. Sein Netzwerk hat gerichtlich Einspruch gegen "Alicem" erhoben. Damit Biometrie nicht gleichbedeutend wird mit Big Brother. (Stefan Brändle aus Nizza, 22.1.2020)