Links oben, wo sich Antarktika Südamerika entgegenstreckt, wird die Kolonisierung beginnen.
Illustation: NASA

In der ersten Hälfte der Erdneuzeit verlor Antarktika zuerst die Verbindung nach Australien und schließlich auch noch die letzte Landbrücke nach Südamerika. Damit war der südpolare Rest des einstigen Superkontinents Gondwana isoliert. Das Meer schloss sich um Antarktika, und der sich bildende Antarktische Zirkumpolarstrom konnte es ungebremst umkreisen und wärmere Strömungen aus Äquatornähe fernhalten. Der einstmals grüne Kontinent wurde dadurch so weit abgekühlt, dass er sich schließlich in die lebensfeindliche Eiswüste verwandelte, als die wir die Antarktis heute kennen.

Auch hier gibt es zwar Leben, und gar nicht so wenig davon – aber es drückt sich in Randlagen herum: an den Küsten und auf vorgelagerten Inseln. Alles komplexe Leben, etwa Robben, Pinguine oder Sturmvögel, ist aufs Meer ausgerichtet und an Land nur zu Gast. Weiter im Landesinneren findet man nur noch besonders genügsame Organismen wie Moose, Flechten oder die unverwüstlichen Bärtierchen.

Als eine der ersten auf dem Vormarsch: die Krabbe Halicarcinus planatus.
Foto: BAS/SMSG LR

Neuland

Doch die Erderwärmung schreitet voran und macht die Antarktis damit zum Kolonisierungsziel in spe – nicht nur für Menschen. Beginnen wird die Neubesiedelung laut dem British Antarctic Survey (BAS) auf der Antarktischen Halbinsel, jenem 1.200 Kilometer langen Dornfortsatz, der auf die Südspitze Südamerikas ausgerichtet ist. Die Bedingungen sind dort ein wenig milder als in anderen Regionen Antarktikas. Nicht von ungefähr finden hier die meisten wissenschaftlichen und mittlerweile auch touristischen Aktivitäten statt.

Ein BAS-Team um den Ökologen Kevin Hughes hat hunderte wissenschaftlicher Studien, Berichte und Datensätze nach Hinweisen durchkämmt, welche Spezies sich dort in naher Zukunft – nämlich schon im kommenden Jahrzehnt – dauerhaft etablieren dürften. 103 Tier- und Pflanzenarten wurden dafür in Betracht gezogen, 13 davon schreiben die Forscher eine hohe Wahrscheinlichkeit zu, dass sie die nächste Besiedelungswelle tragen werden.

Die kommende Flora und Fauna

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Wakame hat sich in vielen Meeresregionen einen Namen als Bioinvasor gemacht.
Foto: REUTERS/Oregon Parks and Recreation Department

Was Landpflanzen betrifft, stehen zwei mit dem Enzian verwandte Rötegewächse (Rubiaceae) ganz oben auf der Liste, Leptinella scariosa und Leptinella plumosa. Und in den Küstengewässern dürfte sich Wakame (Undaria pinnatifida) ausbreiten, eine ostasiatische Braunalge, die aus ihrer Urheimat bereits in viele Meeresregionen eingeschleppt wurde.

Das Tierreich schickt indes einige Winzlinge als Pionier vor. Nur einen Viertelmillimeter groß ist die Milbe Nanorchestes antarcticus, die man heute schon an den Rändern der Antarktis findet und die es bald weiter landeinwärts ziehen wird. Milben dieser Familie sind auf trockene Böden spezialisiert – extrem kalte ebenso wie solche in heißen Wüstengebieten.

Um eine Größenordnung darüber liegt der Springschwanz Protaphorura fimata, der es immerhin schon auf zwei Millimeter Länge bringt. Auch Springschwänze sind Bodenbewohner und bevölkern weltweit das Erdreich in enormen Stückzahlen. Man könnte sie für Insekten halten, doch sind sie nur deren engste Verwandte und haben ebenfalls sechs Beine. Ihre Hauptnahrung ist zerfallendes Pflanzenmaterial – eine Ressource, die in der Antarktis vorerst noch knapp ist, die aber wachsen wird.

Der bis zu 25 Zentimeter lange Wurm Chaetopterus variopedatus gräbt sich großteils im Boden ein und produziert einen Schleimsack, in dem sich Mikroben fangen, seine Nahrung. Er ist weltweit verbreitet.
Foto: Foto: BAS/SMSG LR

Vorerst werden sich viele der Veränderungen aber noch im Meer vor der Antarktischen Halbinsel abspielen. Auf dem Sprung befinden sich laut BAS der borstige Ringelwurm Chaetopterus variopedatus, die Seescheiden Ciona intestinalis und Botryllus schlosseri sowie zwei Krebsarten, nämlich die aus Europa wohlbekannte Gemeine Strandkrabbe (Carcinus maenas) und die Krabbe Halicarcinus planatus.

Sorgen bereitet den Forschern, dass gleich drei Miesmuschelarten drauf und dran sind, die Region zu erobern, die Gemeine Miesmuschel (Mytilus edulis), ihre südamerikanische Verwandte Mytilus chilensis und nicht zuletzt die Mittelmeer-Miesmuschel (Mytilus galloprovincialis). Letztere ist Liebhabern der italienischen Küche als Cozze bekannt. In lebendem Zustand sind die Tiere laut den Forschern allerdings weniger erfreulich: Muscheln können den Meeresboden so erfolgreich kolonisieren, dass sie das dort ansässige Leben geradezu ersticken.

Muscheln wie diese sind als Eroberer nicht zu unterschätzen.
Foto: David Barnes/BAS

Wo bleiben die Großen?

Wirbeltiere sind in dem guten Dutzend an Spezies, die das BAS auflistet, nicht vertreten – nicht einmal Mäuse und Ratten, die mit dem Menschen um die ganze Welt gereist sind. Es gibt sie zwar schon auf einigen der Antarktis vorgelagerten Inseln wie Marion Island oder Südgeorgien, wo sie sich binnen Jahrzehnten zu einer ausgemachten Plage entwickelt haben. Die Bedingungen auf der Antarktischen Halbinsel werden für sie aber auch in absehbarer Zeit zu harsch bleiben, sagt Hughes' Kollege David Barnes.

... zumindest in freier Wildbahn. Betreiber von Antarktisstationen täten gut daran, ihre Anlagen regelmäßig auf Kot- und Bissspuren zu kontrollieren, denn in und um Gebäude könnten sich die kleinen Nager sehr wohl ansiedeln. Überhaupt plädieren die BAS-Forscher stark für die Einhaltung bestehender Biosicherheitsprotokolle, um unkontrollierten Invasionen vorzubeugen.

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Horrorszenen wie auf Gough Island, wo sich eingeschleppte Mäuse über Albatrosse hergemacht haben, wird es in der Antarktis so schnell nicht geben.
Foto: REUTERS/Ross Wanless

Denn von selbst treffen all diese Arten nicht im antarktischen Neuland ein. Sie kommen mit dem Menschen: Meeresbewohner reisen an Schiffsrümpfe geheftet mit, Pflanzensamen stecken im Dreck, den Antarktisbesucher an ihren Schuhsohlen haben, und Insekten sowie andere Tiere schmuggeln sich in Transporte ein, die Nahrung und Ausrüstung zu den Antarktisstationen bringen. Wie es der Chaostheoretiker Ian Malcolm aus den "Jurassic Park"-Filmen so schön sagte: Das Leben findet einen Weg. (jdo, 27. 1. 2020)