Rund 10.000 Gegenstände besitzt ein durchschnittlicher Europäer. Ja, auch Sie, zählen Sie einfach einmal nach! Das finden Sie beachtlich? Es geht immer noch mehr. In einem durchschnittlichen US-amerikanischen Haushalt findet man etwa dreimal so viele Objekte.

Wir sind Jäger und Sammler geblieben, wir kaufen und horten. Schon lange besorgen wir nicht mehr nur Sachen, die wir brauchen und gebrauchen. Was wir shoppend ergattern, untermauert unseren sozialen Status – oft dient der Vorgang einfach auch nur dem Selbstzweck. Doch seit einigen Jahren erobert eine Gegenbewegung aus dem Land der Konsumtempel und Online-Shopping-Riesen die westliche Welt: der Minimalismus, die Reduktion aufs Wesentliche.

Abertausende von Pinterest-Boards und Instagram-Feeds zeigen uns, wie das Leben mit dem Nötigsten ausschauen soll: auf geräumt, clean, luftig und leicht. Und sehr exklusiv! Denn der Minimalismus der 2010er-Jahre ist vor allem eines: kuratiert.

Räum auf, sei happy!

Da wäre etwa Influencerin und Aufräum-Guru Marie Kondo, die uns in Bestsellern und auf Netflix lehrt, dass Minimalismus bedeutet, alles loszuwerden, was "keine Freude bereitet". Diese Herangehensweise klingt simpel, verlangt aber de facto viel Anstrengung und Zeit. Denn nach der Kondo-Lehre müssen wir unsere 10.000 Dinge alle erst in die Hand nehmen und "mit ihnen in Verbindung" treten, ehe wir uns von ihnen trennen.

Aufräumen mit Marie: Fun, Fun, Fun!
Netflix

Neben dem leichten Hang zur Esoterik droht der neue Minimalismus oft auch zu einer reinen Wellnessbewegung zu verkommen. Viele Kosmetikmarken und die dazugehörigen Influencerinnen suggerieren, dass wir lediglich eine einfache Hautpflege mit nur drei – freilich natürlichen – Produkten brauchen, und schon würde sich unser gesamtes Dasein anders anfühlen und gestalten.

Unser lautes, überladenes, schnelles Leben wird also besser, wenn wir uns nur konsequent unserer Sachen entledigen, den Körper regelmäßig detoxen und unsere Posteingänge stets eine Null anzeigen. Das ist das Versprechen des neuen Minimalismus.

Hippies und Umweltschützer

Die Idee des Minimalismus ist nicht unbedingt eine einmalige historische Entwicklung und vor allem auch keine Erfindung der 2010er-Jahre. Menschengruppen, die bewusst auf Konsum verzichten wollten oder das "einfache Leben" propagierten, gab es auch in der Vergangenheit immer wieder.

"Der Postmaterialismus war schon in den 1970er-Jahren in der Wissenschaft und in den Medien ein großes Thema", sagt Edgar Göll vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Damals drehte sich die Debatte aber vor allem um den Wertewandel. Individuelle Selbstverwirklichung, Umweltschutz und Kreativität würden bald die rein materialistischen Werte verdrängen, prognostizierte etwa der US-amerikanische Politologe Ronald Inglehart. Doch auch wenn viele soziale Bewegungen, wie die Hippies, die sogenannte 68er-Generation oder Umweltschützer, den Konsumverzicht als Ideal hochhielten, entstand daraus keine Massenbewegung oder gar ein genereller Wertewandel. Im Gegenteil, davon zeugt die materialistische und erfolgsorientierte Gesellschaft der 1980er-Jahre.

Doch wodurch unterscheidet sich die neue Welle des "Verzichts" von jenen in der Vergangenheit? Und hat sie vielleicht mehr Potenzial, zu einem echten Zukunftstrend zu werden?

Sockenschublade á la Kondo.
Foto: APA/AFP/SARA KAMOUNI

Anders als die Hippies oder die Umweltaktivisten der 1970er-Jahre hat der Minimalist von heute kein vordergründig politisches Anliegen – ihm geht es um Selbstoptimierung und einen cleanen Lebensstil, bei dem man sich lediglich mit einigen wenigen Dingen umgibt. Und anders als die Konsumverweigerer der Vergangenheit legt der moderne Minimalist höchsten Wert darauf, dass der Besitz zwar reduziert, dann aber vor allem schön und hochwertig sein muss.

Ist das rebellisch?

Mittlerweile setzt sich auch die Wissenschaft kritisch mit dieser neuen Lebensweise auseinander. Dieser Instagram-taugliche Minimalismus hätte nirgendwo anders als im Hyperkonsumismus geboren werden können, sagt der prominente Kulturwissenschafter Kyle Chayka: "Die Kommerzialisierung des Minimalismus ist etwas zutiefst Amerikanisches. Wir konsumieren alle zu viel – und nun sogar den Minimalismus."

Genauso wie in der Vergangenheit umgibt den Verzicht auch heute stets der Habitus einer moralischen Überlegenheit. Er soll eine Abweichung vom Mainstream sein, ein Ideal darstellen. "Das Problem mit dem Luxusminimalismus von heute ist, dass der Stil zwar mit moralischer Reinheit und Außenseitertum assoziiert wird, vor allem aber von wohlhabenden Ehefrauen und Technologiemilliardären propagiert wird", sagt Chayka. Die Wohnung oder das Haus auszuräumen, um mehr Platz zu gewinnen, ist tatsächlich nicht ra dikal oder besonders rebellisch, wenn es ein finanzielles Sicherheitsnetz gibt, um alles wieder zurückzukaufen, falls man es sich in der Zukunft doch anders überlegt.

Verachte das Gewöhnliche!

Schaut man hinter die sterile Fassade des modernen Minimalismus, wird tatsächlich klar, dass man sich den Verzicht erst leisten können muss. Will man zum Beispiel in Zukunft gänzlich auf Fast Fashion verzichten, muss man zunächst seinen Kleiderschrank richtig ausmisten. Alles was laut Kondo "keine Freude macht" oder gemustert ist, unfair produziert wurde und Kunststoffe enthält, muss raus. Dann gilt es in eine sogenannte "capsule wardrobe" mit wenigen, aber hochwertigen Teilen zu investieren. "Die Reduzierung eines Kleiderschranks auf einige wenige elegante Kaschmir-Baumwollgemisch-Oberteile ist nur dann wirklich möglich, wenn Sie mindestens 1000 Dollar auf einmal für die Erstellung Ihrer perfekt abgestimmten Basic-Garderobe aufbringen können", schreibt die Finanzexpertin Chelsea Fagan in ihrer Kolumne "Minimalism: another boring product wealthy people can buy" für die britische Tageszeitung Guardian.

Mit der moralischen Überlegenheit, weil der eigene Konsum ethisch und achtsam ist, geht auch eine gewisse Verachtung des Gewöhnlichen einher. "Hören Sie auf, Geld für diesen ganzen Ikea-Unfug zu verschwenden! Mit diesem 4000 Dollar teuren Esstisch, der von einem gescheiterten Schriftsteller in Skandinavien handgeschnitzt wurde, brauchen Sie nie wieder ein anderes Möbelstück", fasst die Guardian-Kolumnistin so spitz wie pointiert zusammen.

Marie Kondo

Wie richtig sie mit dieser Einschätzung liegt, zeigte sich Ende des Jahres, als die Japanerin Marie Kondo, seit 2019 die moderne Hohepriesterin des Verzichts, ihren Onlineshop eröffnete. Erst hatte sie hunderttausende Jünger dazu gebracht, ihren Kram wegzuschmeißen – um ihnen nun Teedosen um 200 Dollar, Käsemesser für 180 Dollar, eine Stimmgabel und eine Kamelhaarbürste sowie einen Kristall für 75 Dollar per Klick anzubieten. Jedes Produkt ist freilich "clean und chic", hochwertig und in minimalistischer Ästhetik fotografiert.

Bewältigungsstrategie

Die Kritiker des neuen Minimalismus fühlen sich dadurch nur bestätigt: Am Ende drehe sich in unserer Welt eben alles um mehr Konsum. Nicht ganz so pessimistisch sieht der Soziologe Edgar Göll die Sinnhaftigkeit des Minimalismus-Trends. "Es gibt derzeit kaum einen Bereich in unserem Leben, wo wir nicht von der Überfülle belastet sind, seien es die Informationsflut oder das Supermarktangebot. Hier kann der Minimalismus tatsächlich eine sinnvolle Bewältigungsstrategie sein", sagt der Soziologe. "Viele Menschen, die das minimalistische Leben ausprobieren, fühlen sich tatsächlich entlastet."

Die erhöhte Sensibilität punkto Klimawandel und Nachhaltigkeit werde dem Trend weiter Auftrieb geben, sagt Göll. Der Minimalismus als reine Stilfrage löst keine Probleme. Aber als Anstoß für ein längst überfälliges Umdenken taugt er allemal. Ein Produkt, das nicht ersetzt werden muss, er fordert auch keinen Herstellungsaufwand.

"Reduce, reuse, recycle" – so lautet die neue Devise, die gar nicht so orginell und hip klingt, aber ein Gebot der Stunde ist. (Olivera Stajić, 26.1.2020)