Foto: Liebeskind

Er dachte an die Tage, die Jahre, die er damit verbracht hatte, seine Schnur auszubringen. Nicht einen einzigen Fisch hatte er gefangen. Nicht mal einen gesehen. Trotzdem war er jeden Tag zu den Stützen der Plattform gestiegen und hatte nach seiner Schnur gesehen. Warum? Er musste geglaubt haben, dass er irgendwann etwas fangen würde. Wie nannte man das Gefühl noch? Er erinnerte sich nicht.

Aber nicht nur den Namen der Hoffnung hat der junge Jem vergessen. Er weiß auch nicht (mehr), was Erdbeeren oder Kartoffeln sind, von den geografischen und politischen Gegebenheiten ganz zu schweigen. Es ist, als hätte ihm die bleigraue Eintönigkeit seiner Umgebung nach und nach die Erinnerungen an alles, was außerhalb seiner kleinen Welt liegt, gelöscht.

Doggerland

Diese Welt ist ein zerfallender Offshore-Windpark 100 Meilen vor der Küste, mitten im Nirgendwo der Nordsee. (Der Titel der Originalausgabe macht es etwas deutlicher: "Doggerland" ist jene Region zwischen Ostengland und dem Kontinent, die noch lange nach dem Abschmelzen der großen eiszeitlichen Gletschermassen über Wasser blieb und erst vor gut 8.000 Jahren unter einem Megatsunami versank.)

Der riesige Park umfasst über 6.000 Windräder – hunderte davon sind allerdings bereits ausgefallen. Auch wenn sich die beiden Hauptfiguren von Ben Smiths Roman – anfangs zumindest – alle Mühe geben, Schäden zu reparieren, schreitet der Niedergang unaufhaltsam voran. Und während die Anlage, die immer seltener von Versorgungsschiffen angelaufen wird, vor sich hin rostet, treiben die Meeresströmungen unter ihr Müll aus weit entfernten Regionen zusammen. Jedes Teil davon erscheint Jem wie eine rätselhafte Botschaft aus einer unbekannten Welt.

Spannendes Kammerspiel

Bei der Grundkonstellation von "Dahinter das offene Meer" fühlt man sich im ersten Moment etwas an Robert Eggers' beeindruckenden Film "The Lighthouse" erinnert, der kürzlich in den Kinos lief. Isoliert in nautischer Umgebung schmoren zwei Männer – hier: Jem und der ältere Greil – im eigenen Saft. Einer davon ist nur der jüngste in einer ganzen Reihe von Gehilfen des anderen und bekommt das hierarchische Gefälle auch tagtäglich zu spüren. Man ist aufeinander angewiesen, doch jeder hütet seine Geheimnisse und geht seinen Privatprojekten nach. Ressentiments sind unvermeidlich, Psychospielchen setzen ein.

Ob sich die destruktive Spirale hier ebenso weit in den Wahnsinn drehen wird wie in "The Lighthouse", ist eine der Fragen, die den im Grunde buchstäblich dahinplätschernden Roman so packend machen. Die anderen lauten: Wird Jem es schaffen, aus dem Windpark zu fliehen? Kann er aufklären, was aus seinem Vater geworden ist, der sein Vorgänger als Greils Gehilfe war und eines Tages spurlos verschwunden ist? Warum sammelt Greil wie besessen Relikte der steinzeitlichen Besiedelung Doggerlands und tauscht wertvolle Ausrüstung gegen immer neue Karten mit Hinweisen auf Fundstätten? Und was ist die Agenda des Schiffsführers, der den Windpark mit Nachschub versorgt und einen ziemlich zwielichtigen Eindruck macht?

Das alles sind freilich typische Plot-Fragen, und Ben Smith macht in seinem Debütroman nicht unbedingt den Eindruck, als wären klassische Handlungsmuster seine oberste Priorität. (Weniger verklausuliert formuliert: Besser nicht eine Antwort auf alle Fragen erwarten, sonst ist man am Ende enttäuscht!) Smith interessiert sich für die Ausnahmesituation, in der sich seine Protagonisten befinden – und vor allem für das, was sie mit ihnen macht: Der Junge beugte sich zu seinem Spiegelbild vor und machte die Augen weit auf. War seine Haut immer so blass gewesen, fast grau? So grau wie Wände und Boden? Er hob die Hand, berührte seine Backe, die Stirn, um sicherzugehen, dass er nicht zu Metall geworden war.

Vage Eindrücke

Der Engländer Ben Smith ist Literaturwissenschafter und auf Klimathemen spezialisiert, er verkörpert also gewissermaßen das (angebliche) Modegenre "Cli-Fi". Verwandtschaften wird man zu John Lanchesters "Die Mauer" ebenso finden wie zu Jürgen Bauers "Ein guter Mensch". Das sind Titel, die nicht unbedingt als Science Fiction wahrgenommen werden (wollen) und den eigentlichen SF-Plot auf verschiedene Weise unterlaufen. Etwa durch Abstraktion: Der Name Jem ist in dieser Rezension vermutlich öfter gefallen als im ganzen Buch. Normalerweise bezeichnet Smith seine Protagonisten nämlich als "der Junge" und "der alte Mann", Cormac McCarthys "Die Straße" lässt grüßen.

Nach gleichem System ist nur von "der Küste" und "der Firma", die für den Windpark verantwortlich ist, die Rede. Diese Firma scheint übrigens ein Universal-Monopolist zu sein, und dass Jem den Arbeitsvertrag seines Vaters übernehmen musste, spricht dafür, dass in dieser ungemütlichen Zukunft eine neue Art von Leibeigenschaft herrscht – auch wenn das nicht direkt ausgesprochen wird. Vage bleibendes Worldbuilding ist ebenfalls ein Indiz für SF-die-keine-SF-sein-will und vermittelt unterschwellig die Botschaft "Hallo, ich schreibe hier echte Literatur!" (Das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen ... trotzdem ist "Dahinter das offene Meer" eine klare Empfehlung, nur damit wir uns nicht falsch verstehen.)

Beiläufig gesetzte Anmerkungen über verlorene Städte und weitgehend zum Erliegen gekommenen Schiffsverkehr vermitteln uns das Bild einer Welt im Niedergang. Parallel dazu setzt Smith mehrfach Einschübe zur geologischen Geschichte Doggerlands. Der Eindruck, der sich daraus ergibt: Die gegenwärtige Zivilisation wird eine ebenso flüchtige Erscheinung bleiben wie die versunkene Kultur aus der Steinzeit – eine triste Botschaft, aber ein beeindruckender Roman.

PS: "Dahinter das offene Meer" wird am Montag (17. Februar) veröffentlicht und ist eigentlich erst dann für Rezensionen freigegeben. Nachdem ich dann bereits an der Spree bin, an dieser Stelle ein Dankeschön an den Verlag, dass ich die Sperrfrist um die entscheidende Zehenlänge übertreten durfte!