Sechsmal für den Oscar nominiert: Greta Gerwigs Romanverfilmung "Little Women"
Foto: Sony Pictures / CTMG

Wer legt fest, dass man bei Romanverfilmungen mit dem Anfang beginnen muss? Greta Gerwig hat sich in ihrer zweiten Regiearbeit nach dem gefeierten Lady Bird bewusst nicht an dieses ungeschriebene Gesetz gehalten. Sie setzt mit einer Rückenansicht auf ihre Heldin Jo March (Saoirse Ronan) an, als würde diese noch einmal kurz kräftig durchatmen, bevor sie ihren ersten großen Schritt in die Selbstständigkeit einer Autorin wagt. Mit tintenbefleckten Fingern wird sie einem New Yorker Verleger eine Geschichte anbieten und verheimlichen, dass sie aus ihrer Feder stammt. Der nimmt sie an, mit ein paar Strichen und einer Änderung: Am Ende sollte die Frau unter der Haube sein oder tot, sagt er, also alles, nur nicht ledig.

Es ist nicht die einzige Szene aus Little Women, die mit der Chronologie von Louisa May Alcotts klassischem Coming-of-Age-Roman bricht. Gerwig verzichtet auf die Linearität von zahlreichen früheren Adaptionen (von jener George Cukors von 1933 bis zur letzten von Gillian Anderson mit Winona Ryder), um zur Essenz der Geschichte von vier Schwestern in Massachusetts vorzudringen. Sie will den Roman aus dem 19. Jahrhundert für moderne Befindlichkeiten schärfen. Herausgekommen ist ein Kostümfilm, der keine aufgesetzten Aktualisierungen braucht, um verblüffend aktuell zu erscheinen. In warmen Farben führt Little Women zurück in das Elternhaus der Marchs, wo die zurückhaltende Beth (Eliza Scanlen), die genügsame Meg (Emma Watson), die trotzige Amy (Florence Pugh) und Jo mit ihrer Mutter Marmee (Laura Dern) ihre späten Teenagerjahre verbringen – der Vater, Soldat im Bürgerkrieg, kommt nur am Rande vor.

Weibliche Selbstentfaltung

Dazwischen blickt der Film beständig in die Zukunft voraus, um in etwas dunkleren Tönen zu zeigen, wie sich Wünsche und Vorstellungen an realen Möglichkeiten reiben. Nicht das Ergebnis ist so wichtig, sondern der Weg dorthin: die Frage, an welchen Schnittstellen sich etwas entscheidet. Weibliche Selbstentfaltung; das unter den Schwestern allgegenwärtige Bedürfnis nach Freiheit und Kreativität; ein ausgelassener Wille, mit gesellschaftlichen Konventionen zu brechen und in einer reichen Heirat nicht das ökonomisch einzig sinnvolle Los zu sehen – all das rückt wie selbstverständlich ins Zentrum,

Gerwig, die auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, bewahrt bravourös die Übersicht im lebhaften Gewusel. Die Vielstimmigkeit des Films, der von einer Szene zu nächsten, manchmal sogar innerhalb derselben die Gefühlslagen zu verschieben vermag, erinnert an den New-Hollywood-Regisseur Robert Altman. Die Unterschiede geben die Temperamente der vier Schwestern vor, wobei Meg, die sich früh für die Ehe entscheidet, und die empfindsame, bald schwer erkrankte Beth eher dazu da sind, die Moral der anderen beiden zu stärken.

Tiefgehende Charaktere

Das Verhältnis zwischen Jo, dem Alter ego von Alcott, die auf dem Dachboden schreibt und Theaterstücke inszeniert, und der Nachzüglerin Amy, die in allem mit ihrer Schwester gleichziehen will, bildet das Rückgrat des Films. Saoirse Ronan und die aus Midsommar bekannte Florence Pugh sind exzellent darin, den Konkurrenzkampf zwischen den Schwestern zu veranschaulichen, der durch ihre Gefühle füreinander noch an Schwung gewinnt. Timothée Chalamet spielt den verzogenen, dandyhaft rebellischen Schönling Laurie aus dem Nachbarshaus, für den beide schwärmen, durchaus wider ihre Überzeugungen. Und er für sie.

Gerwig versteht es, Widersprüche und die Fehlerhaftigkeit ihrer Figuren zu erhalten. Das ist keine Kleinigkeit, denn es macht ihren Film erst so lebendig, so tiefgründig (nur Alexandre Desplats Score erzeugt etwas zu stark Nachdruck). Selbstbewusstsein und Zukunftsängste, Enttäuschung und Lebensfreude gehören in Little Women zusammen. Wenn Jo vor ihrer Mutter rekapituliert, warum sie das Wort Liebe nicht hören kann, dann aber ihre Einsamkeit beklagt, mündet der erst so unbeschwerte Film in Erfahrungen, die durch Aufrichtigkeit aufwühlen.

Sechsmal ist Gerwigs Film für den Oscar nominiert – unverständlicherweise nicht für die beste Regie. Das Wort des Verlegers hat eben auch noch in der Gegenwart Gewicht. Zu viel Komplexität hat ihren Preis. (Dominik Kamalzadeh, 25.1.2020)