Niemand darf bei der Zählung aufgeweckt werden – es gibt klare Regeln.

Foto: APA/dpa/Paul Zinken

Sie können ruhig kommen, mich stört das nicht. Und so lange mir keiner Vorträge hält, gebe ich auch Auskunft." Das sagt Pit, wie er sich nennt, zieht an seiner Zigarette und schaut auf die dunkle Spree.

Morgens kommt er hier vorbei auf dem Weg zur S-Bahn, übernachtet hat er im Tiergarten. Viel erzählen will der Mittfünfziger nicht, nur so viel: "Einiges ist schiefgelaufen." Job weg, dann warf ihn die Freundin raus, seit sechs Monaten lebt er auf der Straße. Von der bevorstehenden Zählung hat er in der Bahnhofsmission schon gehört: "Spricht sich ja rum."

Und es wird eine große Aktion, die erste dieser Art in Deutschland. "Wir wissen nicht, wie viele Obdachlose in Berlin leben", sagt Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei. Die Schätzungen reichen von 4.000 bis 10.000 Personen, manchmal ist von 20.000 die Rede.

Sie glaubt auch, dass sich die Lage verändert habe. Früher sei man davon ausgegangen, dass die meisten Obdachlosen männlich, weiß sowie zwischen 35 und 55 Jahre alt seien. Breitenbach: "Heute dürfte Obdachlosigkeit viel weiblicher und internationaler sein. Oft kommt noch eine schwere Behinderung dazu." Sie will sich auch nicht festlegen, wo in der großen Stadt sich Menschen ohne Obdach konzentrieren: in der Innenstadt, weil sie dort besser "Flaschen sammeln können", oder eher in den grüneren Randbezirken, wo sie mehr Ruhe haben?

Politik handelte lange nicht

Seit den Achtzigerjahren fordern Wohlfahrtsverbände, dass man erst einmal die genaue Zahl erfassen müsse, um dann bessere Hilfe anzubieten. Getan hat sich lange Zeit nichts.

"Das Thema Wohnungslosigkeit war jahrzehntelang für die Politik nicht interessant", sagt Susanne Gerull, Armutsforscherin an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, die die "Nacht der Solidarität" mitinitiiert. Nun aber habe der Senat reagiert, weil ihm einige Verbände "auf die Füße getreten sind", so Gerull.

Und auch weil das Problem immer sichtbarer wird. Sah man früher vereinzelt Wohnungslose unter einer Brücke schlafen, so sind es jetzt ganz Gruppen, die Schutz vor der Kälte suchen.

Sie alle, wie auch jene, die im Tiergarten hausen, in anderen Parks, in Unterführungen, sollen nun gezählt werden. Am Mittwoch um 22 Uhr geht es los.

Berlin, die 3,7-Millionen-Einwohner-Stadt wurde von den Organisatoren für die Aktion in 617 Zählräume unterteilt. Jeder davon wird von einem Team aus mehreren Freiwilligen durchkämmt. Insgesamt haben sich 3.725 Personen gemeldet, viele davon sind Studenten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.

Tragen werden sie blaue Westen, auf denen "Nacht der Solidarität" steht. Diese Kennung ist Senatorin Breitenbach wichtig. Denn: "Die Menschen sollen nicht denken, da kommt die Polizei oder das Bezirksamt."

Keine "Obdachlosen-Safari"

Für die Zählenden gibt es einen Verhaltenskodex: niemanden aufwecken, keine Fotos machen, niemanden mit der Taschenlampe blenden, leise sprechen. "Das ist keine Obdachlosen-Safari", hat Breitenbachs Sprecher vorab betont. Seine Chefin sagt: "Es ist jetzt nicht so, dass wir hinter jeden Busch kriechen oder jemanden verfolgen."

Wer keine Auskunft geben will oder kann, soll einfach nur erfasst werden. Die anderen werden gebeten, ein paar kurze Angaben zur Person zu machen: Alter, Geschlecht, Nationalität, außerdem möchten die Fragesteller wissen, seit wann die Betreffenden auf der Straße leben und ob sie mit jemandem zusammenleben.

Vorbild für die Berliner Aktion ist Paris, dort findet 2020 bereits die dritte Zählung statt. In der französischen Hauptstadt, so Breitenbach, habe sich bei den Zählungen herausgestellt, dass unter den Obdachlosen mehr Frauen waren als angenommen. Danach wurden mehr Schlafplätze für Frauen angeboten.

"Wir müssen wissen, wer da lebt, damit wir unsere Angebote verbessern können", sagt Breitenbach. Vielleicht braucht es mehr Plätze, an denen Hunde erlaubt sind. Oder verstärkt Personal, das eine bestimmte Sprache spricht.

Zwar soll die Zählung "kein Event" werden. Aber mehr als eine Nummerierung von Menschen erwartet sich die Sozialsenatorin schon: "Es ist ein Zeichen, dass Berlin solidarisch ist und viele nicht bloß damit beschäftigt sind, bei Obdachlosigkeit angestrengt wegzusehen." (Birgit Baumann aus Berlin, 28.1.2020)