Nicola Sturgeon denkt schon vor dem Brexit an einen neuerlichen EU-Beitritt.
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Folgenden Satz lässt Premierminister Boris Johnson bei keiner Gelegenheit aus: "Wir verlassen die EU als einiges Land." Natürlich handelt es sich nicht um eine Zustandsbeschreibung, sondern um eine Beschwörungsformel – denn die Uneinigkeit ist manifest: Die drei Regionalparlamente von Schottland, Nordirland und Wales haben dem Austrittsgesetz der konservativen Regierung die Zustimmung verweigert. Und schon setzen Brexit-Gegner ihre Hoffnung auf bevorstehende Verfassungskrisen.

Klar angekündigt hat dies die schottische Regierung unter Nicola Sturgeon. Beim Referendum über die Unabhängigkeit 2014 war die gemeinsame Mitgliedschaft des Landes in der EU ein Hauptargument der Unionisten; am Ende votierten die Schotten mit 55 zu 45 Prozent für den Verbleib bei London. Dass sie zwei Jahre später mit einer deutlicheren Mehrheit von 62 zu 38 Prozent auch für die fortdauernde Mitgliedschaft im Brüsseler Klub stimmten und nun gegen ihren Wunsch der Brexit doch kommt, nutzen die Nationalpartei SNP und ihre Chefin Sturgeon für ihre wiederkehrende Forderung: Gebt uns ein zweites Votum für die Unabhängigkeit!

Die Wähler scheinen den Freiheitskämpfern recht zu geben: Bei der Unterhauswahl konnte die SNP 48 der 59 schottischen Sitze abräumen, in Meinungsumfragen herrscht mittlerweile ein Patt bei der Frage nach der Auflösung der 1707 geschlossenen Union mit England.

SNP setzt auf Wahlen 2021

Bei der schottischen Regionalwahl im Mai 2021 kann sich Sturgeon berechtigte Hoffnungen auf ein gutes Abschneiden von SNP und Grünen machen, die ebenfalls die Abspaltung befürworten. Hingegen sind die Regionalgliederungen der gesamtbritischen Unionistenparteien Labour, Konservative und Liberaldemokraten in einem jämmerlichen Zustand; die charismatische Tory-Chefin Ruth Davidson, beste Hoffnung der Einheitsfreunde, hat vor Johnsons harter Brexit-Politik die Flucht ins Privatleben angetreten.

Boris Johnsons Mantra: "Wir verlassen die EU als einiges Land."
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Sturgeons Forderung nach einem erneuten Referendum hat Johnson kühl abgelehnt. Drei Faktoren geben dem Regierungschef Hoffnung: Vor der Volksabstimmung 2014 sprachen die Nationalisten von einer "Entscheidung für eine Generation", also mindestens 20 Jahre. Die damalige Galionsfigur der Unabhängigkeitsbewegung, Ex-Ministerpräsident Alex Salmond, muss sich, zweitens, ab März wegen diverser Sexualdelikte im Amt vor Gericht verantworten. Egal wie der Prozess ausgeht: Die mutmaßlich unerfreulichen Details dürften das Image der extrem diszipliniert auftretenden SNP erheblich beschädigen.

Der dritte Faktor wiegt am schwersten: Nach beinahe 13 Jahren im Amt wird die Regionalregierung zunehmend von Problemen eingeholt. Die früher als vorbildlich geltenden schottischen Schulen erzielen nur noch vergleichsweise mittelmäßige Ergebnisse, das Defizit liegt bei sieben Prozent und damit weit über dem Maastricht-Kriterium der EU, das Gesundheitssystem wird von Skandalen geschüttelt.

Unionisten können zu Recht auf großzügige Unterstützung durch London verweisen; für die kommenden Monate ist eine Reihe neuer Investitionen in die öffentliche Infrastruktur geplant, von denen Schottland einiges abbekommen dürfte. (Sebastian Borger aus London, 27.1.2020)