Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Treblinka erschienen in allen Qualitätszeitungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz erschütternde Interviews mit den Überlebenden und Berichte über das unfassbare Verbrechen, das die Nazis begangen haben.

Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem.
Foto: EPA / Abir Sultan

Bei der Gedenkveranstaltung in Yad Vashem in Jerusalem hielt der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor vierzig Staats- und Regierungschefs eine denkwürdige Rede. Er sprach vom "industriellen Massenmord" an sechs Millionen Jüdinnen und Juden: "Die Täter waren Deutsche. Die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche. Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurde von meinen Landsleuten begangen." Er äußerte deutlich seine Befürchtung über die bedrohliche Ausbreitung des Antisemitismus in Deutschland.

Trotz dieses außergewöhnlichen und bewegenden Auftritts muss man feststellen, dass dieses fünfte Welt-Holocaust-Forum ein viel zu formelles protokollarisches Event war. Unter den 800 geladenen Gästen saßen bloß etwa 30 Überlebende. Die Veranstaltung, die dem Gedenken der Opfer gewidmet werden sollte, wurde politisch von dem um sein politisches Überleben kämpfenden israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vereinnahmt. Der russisch-polnische Streit über die Vorgeschichte des Holocausts und die Absage des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, weil er bei den Feierlichkeiten in Jerusalem nicht reden sollte, obwohl sein Land die größte Opfergruppe stellte, haben Schlagzeilen in der internationalen Berichterstattung gemacht. Infolge der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen ist der Eindruck einer Gedenkfeier ohne Seele übrig geblieben.

Gerade angesichts des wachsenden Antisemitismus nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und in den USA ist es wichtiger denn je, die Lehren aus der Geschichte jungen Menschen zu vermitteln. Neben dem rechtsextremen Antisemitismus geht es auch um den Israel-bezogenen Judenhass von links und um den muslimischen Antisemitismus. In Berlin und Wien berichten die oft überforderten Lehrer, dass an Schulen mit hohem Migrationsanteil der Unterricht über den Holocaust überhaupt nicht möglich sei.

Zu Recht betonte Bundespräsident Alexander Van der Bellen, dass Auschwitz der Endpunkt eines langen Irrweges, geprägt durch Ignoranz, Hetze und Gewalt, war. Die Anfänge, deren wir uns erwehren müssen, liegen schon in der Abwertung der Gedenkkultur durch Geschichtsfälscher. Die Zahlen über die Besucher der Gedenkstätten sind trügerisch. Sie seien "zunehmend mit Besuchern konfrontiert, die schlecht vorbereitet kommen, einen veränderten Medienkonsum mitbringen und für die das Geschehen in weiter Ferne liegt", warnte kürzlich der Präsident des deutschen Zentralrats der Juden, Josef Schuster. Je weniger Zeitzeugen noch leben, umso wichtiger wird es, mit digitalen Mitteln nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer zu schulen. Kernfrage bleibt also, die Erinnerung durch nationale Aktionspläne und nicht durch überfrachtete Gedenktage wachzuhalten. (Paul Lendvai, 27.1.2020)