Foto: Mythic Island Press

Von der Space Opera zum Planetenabenteuer verschiebt sich der Schwerpunkt im zweiten Teil von Linda Nagatas atemberaubender "Inverted Frontier"-Reihe. "Planet" unter Anführungszeichen allerdings, denn eigentlich haben wir es – yes! – mit einer Ringwelt zu tun. Und sie spiegelt sehr schön den Paradigmenwandel wider, den die Realität und mit ihr die SF seit den Zeiten von Larry Nivens Klassiker vollzogen haben. War die Ringwelt von 1970 noch ein reines Hardware-Konstrukt, so spielt hier Software die entscheidende Rolle.

Das zeigt sich nicht zuletzt an den Protagonisten, die das Wort Mensch längst neu definiert haben. "Avatar" steht hier für die physische Erscheinungsform, und ein solcher Körper lässt sich bei Bedarf jederzeit züchten. Die meiste Zeit hingegen verbringen diese neuen Menschen als virtuelle Bewusstseine (ghosts) – etwas also, das sich wie jede andere Software editieren und kopieren lässt. (Was bis zu einem gewissen Grad übrigens auch für den mit Nanomaschinen und Implantaten gefluteten Körper gilt: Einmal überlegt Hauptfigur Urban etwa, seinen Körper sukzessive schrumpfen zu lassen, um Nahrung zu sparen.)

Dennoch betrachten sich diese posthumanen Wesen, für die Faktoren wie Zeit oder Tod nur noch unter besonderen Umständen eine Rolle spielen, aber immer noch als Menschen. Und erstaunlicherweise schafft Nagata es, dass auch wir Leser sie als Menschen wahrnehmen und mit ihren Abenteuern mitfiebern.

Wir blicken zurück

Zur Erinnerung an Band 1, "Edges": "Inverted Frontier" heißt die Reihe, weil hier Pioniere von den am weitesten draußen gelegenen Kolonien den Weg zurück zur Ursprungsregion der Menschheit nehmen. Dort, in den sogenannten Hallowed Vasties, waren Anzeichen für Superzivilisationen sichtbar, die aufgestiegen und aus unbekanntem Grund wieder gefallen sind. Also scharen die Abenteurer Urban und Clemantine eine Expedition um sich, die mit einer kleinen Flotte losfliegt, um nachzuschauen, was im Kerngebiet der Menschheit los ist.

Unterwegs werden sie jedoch von einem Wesen gekapert, das einen ersten Vorgeschmack darauf gibt, wie weit sich der Homo sapiens bereits entwickelt haben könnte. Lezuri ist eine transhumane Existenz von gottgleicher Macht, und er trägt Rache im Herzen. Er wurde in den interstellaren Leerraum verbannt und will nun mithilfe der Expedition auf seine Heimatwelt Verilotus zurückkehren – eine Welt, die er wohlgemerkt geschaffen hat. "Edges" endete damit, dass Lezuri vertrieben werden konnte und sich nun aus eigener Kraft nach Verilotus aufmacht. Der Rest der Flotte folgt ihm, um ihn endgültig zu vernichten. Urban wiederum, der von den anderen für tot gehalten wird, fliegt ihm mit einem Beiboot voraus, um ihm eine Falle zu stellen.

Wunderwelt

Und damit betreten wir fantastisches Neuland. Einen Außenblick auf Verilotus durften wir bereits erhaschen: Es handelt sich wie gesagt um eine Ringwelt, die aber im Zentrum eines noch gewaltigeren Rings liegt: einem Blade genannten leuchtenden Phänomen von 650.000 Kilometern Durchmesser, das als "Bruch in der Raumzeit" beschrieben wird und offenbar eine Schnittstelle zu einem anderen Universum ist.

Doch auch das auf den ersten Blick recht erdähnliche Verilotus selbst hat jede Menge Attraktionen zu bieten: von einer Stadt aus unmöglich dünnen Glastürmen (die sich später als etwas völlig anderes entpuppen werden) bis zu follies genannten willkürlichen Strukturen und Objekten, die wie übergroßes Spielzeug über die Landschaft verteilt sind. Auch wenn Urban, der noch nie seinen Fuß auf einen Planeten gesetzt hat, anderes noch wundersamer erscheint: And it was still raining ... that astounding phenomenon of frigid water dripping uncontrolled out of the sky.

Steter Wandel

Die wichtigste Rolle spielt aber das titelgebende Silber, offenbar die Grundsubstanz dieser Welt: ein leuchtendes Substrat aus Nanomaterie, die jede Nacht aus dem Boden quillt und alles verändert, womit sie in Berührung kommt. Sie verschluckt Dinge und Menschen und lässt andere Objekte wie Überraschungsgeschenke zurück. Die Infosphäre gestaltet also die physische Welt um – diese Ringwelt ist in ständiger Umformatierung begriffen.

Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für die paar tausend Menschen, die Verilotus noch besiedeln. Sie nennen sich "Spieler" – und vom Geschwisterpaar Jubilee und Jolly, die zu Urbans Fremdenführern werden, erfahren wir, dass jeder Spieler nach seinem Tod wiedergeboren wird und dass die meisten von ihnen schon viele Leben hinter sich haben: Neben Nivens "Ringwelt" finden sich hier also auch Anklänge an Philip José Farmers "Flusswelt". Lezuri hatte ja schon im Vorgängerband anklingen lassen, dass seine Welt ein "Spielbrett" sei. Verbannt wurde er, weil er sich mit seiner Mit-Schöpferin nicht über die Regeln des Spiels einig werden konnte.

Zwei Ströme fließen zu einem zusammen

Wer wirklich belesen ist, wird bei der Beschreibung des Silbers oder spätestens beim Namen Jubilee aufgehorcht haben. Tatsächlich ist "Silver" nämlich nicht nur das Sequel von "Edges", sondern auch das des Science-Fantasy-Romans "Memory", den Nagata 2003 veröffentlicht hatte. Im Nachwort schreibt die Autorin, wie ihr eines Tages auffiel, dass sich die beiden ursprünglich getrennten Erzählungen eigentlich gut kombinieren lassen würden. Und tatsächlich fügt sie sie so nahtlos zusammen, dass man bei Nicht-Kenntnis von "Memory" nicht einmal auf den Gedanken käme, dass hier eine bereits bestehende Welt nachträglich umfunktioniert wurde.

Überhaupt ist "Silver" ausgesprochen flüssig zu lesen, trotz eines nicht gerade anspruchslosen Technologie-Levels. Aber das Schwierige leicht erscheinen zu lassen, zeichnet einen guten Autor bzw. eine gute Autorin eben aus. Nagata spielt in einer Liga mit Namen wie Alastair Reynolds, Vernor Vinge oder Stephen Baxter – was Space Operas mit wahrhaft kosmischem Atem betrifft, macht der Erfolgsgeneration der 90er und Nuller Jahre nach wie vor niemand was vor. Und Nagata gehört zu dieser Generation, auch wenn sie erst mit etwas Verspätung vergleichbare Bekanntheit erlangt hat.

Hoffentlich geht die "Inverted Frontier"-Reihe nach dem Kampf um Verilotus weiter. Die Ringwelt hat uns ja nur einen ersten Vorgeschmack darauf geboten, welche Wunder im eigentlichen Kerngebiet der posthumanen Zivilisation noch warten könnten. Also: Auf in die Hallowed Vasties!