Schon als kleiner Bub entdeckte Klaus Dürrschmid seine Liebe zum Essen. Er begann im Sommer, Vanillekipferl zu backen, oder bereitete sich zum Frühstück ein Steak oder ein Omelett zu. In der dritten Klasse Volksschule durfte er vor den anderen Mitschülern kochen, und sie mussten beschreiben, was er tat. "Mir war bald klar, dass ich beruflich irgendetwas mit Lebensmitteln und Naturwissenschaften machen sollte", sagt Dürrschmid. Nach der Schule studierte er Lebensmittel- und Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur in Wien. Nun hat er ein Buch über seine Forschung zum Geschmack veröffentlicht.

STANDARD: Wann lernt der Mensch zu schmecken?

Dürrschmid: Es braucht nicht nur die Zunge und Geschmackssinneszellen, sondern auch das Nervensystem und ein entwickeltes Gehirn, das die sensorischen Informationen verarbeiten kann. Das ist beim Menschen etwa ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat möglich. Der Fötus nimmt dann bereits die Geschmacks- und Duftstoffe im Fruchtwasser wahr. In den 1940er-Jahren gab es Versuche zum Geschmacksempfinden, die aus heutiger Sicht ethisch nicht mehr möglich wären. Es wurden Süßstoffe ins Fruchtwasser injiziert und beobachtet, wie sich der Fötus verhält. Das gesüßte Fruchtwasser führte dazu, dass die Kinder Unmengen an Fruchtwasser tranken, bis zu zwei Liter pro Tag.

STANDARD: Die Mutter prägt also durch ihre Ernährung bereits während der Schwangerschaft die späteren Geschmacksvorlieben ihres Kindes?

Dürrschmid: Genau. Das belegt auch eine bekannte französische Studie aus dem Jahr 2000. Eine Gruppe von Schwangeren aß regelmäßig Anisprodukte, die Kontrollgruppe durfte keine Lebensmittel mit Anisgeschmack im letzten Drittel der Schwangerschaft verzehren. Danach wurde getestet, wie die Neugeborenen auf Anis reagieren. Jene Kinder, die den Anisgeschmack bereits über das Fruchtwasser kennengelernt hatten, reagierten als Neugeborene sehr positiv auf dieses Aroma. Die Kinder aus der Kontrollgruppe waren eher skeptisch oder reagierten negativ auf den Geruch. Dieser Lernprozess wird "Liking by tasting" genannt.

"Wer viel von stark gesalzenen, gewürzten oder aromatisierten Lebensmitteln isst, adaptiert seinen Geschmack auf dieses Salz-, Zucker- und Aromaniveau", sagt Klaus Dürrschmid.
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STANDARD: Warum ist Geschmack wichtig?

Dürrschmid: Das Schmecken ist die letzte Möglichkeit, mit der kontrolliert werden kann, was in unseren Verdauungstrakt kommt. Es ist von existenzieller Wichtigkeit, dass in den Magen-Darm-Trakt nur Lebensmittel kommen, die wir vertragen und die nicht gesundheitsschädlich sind. Dass viele unserer Sinnesorgane in der Nähe des Mundes angeordnet sind – also dort, wo die Verdauung beginnt –, ist kein Zufall. Einen so intensiven Kontakt wie mit einem gegessenen Lebensmittel haben wir mit keinem äußeren Objekt. Ein Teil davon wird sogar Bestandteil unseres Körpers. Deshalb muss über Aussehen, Geruch und Geschmack geprüft werden, was reindarf und was nicht.

STANDARD: Sie sagen, dass der Mensch mehr als fünf Sinne hat. Wie ist das zu verstehen?

Dürrschmid: Neben den klassischen fünf Sinnen gibt es eine Reihe von Sinnessystemen, die beim Essen und Trinken relevant sind. Scharf, prickelnd, brennend sind keine gustatorischen Erlebnisse, sondern trigeminale Wahrnehmungen, die über die Reizung des Drillingsnervs entstehen. Auch Temperatur und Schmerzen sind als separate Wahrnehmung zu verstehen. Dann gibt es eine kinästhetische Wahrnehmung, den Gleichgewichtssinn und zusätzlich noch unbewusste Systeme, etwa die Glukoserezeptoren im Magen-Darm-Trakt. Selbst der Darm hat Geschmacks- und Geruchsrezeptoren, die wahrscheinlich regulieren, welche Verdauungsenzyme ausgeschüttet werden, und der Kommunikation zwischen den Gewebszellen dienen. Es gibt Geschmacksrezeptoren in der Nasenschleimhaut und Riechrezeptoren auf der Zunge, es ist ein völliges Durcheinander, das noch nicht ausreichend geklärt ist. Geschmack ist wahrscheinlich die komplexeste Sinneswahrnehmung, die es gibt.

STANDARD: Geschmack sichert das Überleben, welche Rolle spielt der Genuss?

Dürrschmid: Lebewesen, die keinen positiven Antrieb haben, sich zu ernähren, haben einen Überlebensnachteil gegenüber jenen, die Freude und Lust am Essen haben. Über die Nahrung werden jene Bestandteile aufgenommen, die zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen notwendig sind. Wenn ich dafür mit Genuss belohnt werde, führt das dazu, dass ich regelmäßig und in ausreichender Menge esse.

STANDARD: Warum schmecken uns Lebensmittel mit einer hohen Energiedichte am besten?

Dürrschmid: Das ist wahrscheinlich ein verhängnisvolles Erbe der Evolution. Energiereiche Kost sicherte das Überleben in mageren Zeiten durch Anlegen von Energiereserven. Wir kennen solche Hungerkrisen nicht mehr, aber die geschmackliche Vorliebe ist geblieben. Es gibt leider keine kalorienarmen alternativen Substanzen, die uns eine hohe Energiedichte vorgaukeln. In dieser Hinsicht lässt sich das Gehirn nicht überlisten.

Seit 1990 forscht Klaus Dürrschmid am Institut für Lebensmittelwissenschaften der Boku Wien. Er leitet auch das dort ansässige Sensoriklabor.
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STANDARD: Welche Rolle spielt die Erwartung des Gehirns beim Schmecken?

Dürrschmid: Geschmackswahrnehmung können auch stark von der Farbe beeinflusst werden. Nehmen wir als Beispiel ein rosa gefärbtes und gesüßtes Naturjoghurt. Durch die rosa Farbe erwartet das Gehirn basierend auf den Erfahrungen, die es bisher gemacht hat, dass es sich um Erdbeer- oder Himbeerjoghurt handeln muss, und tatsächlich schmecken viele Menschen dann Erdbeere oder Himbeere, das Gehirn ergänzt diesen Geschmack.

STANDARD: Das Gehirn produziert sozusagen den Geschmack?

Dürrschmid: Das Gehirn ist sehr ökonomisch und bevorzugt es, wenn die Erwartungen, die es annimmt, auch erfüllt werden. Wenn der Kontrast zwischen dem, was erwartet wurde, und dem, was tatsächlich wahrgenommen wird, nicht übermäßig groß ist, dann kommt es zur Verzerrung in Richtung des Geschmacks, der erwartet wurde.

STANDARD: Schmecken deshalb der Wein und das Essen im Urlaub meistens besser als daheim?

Dürrschmid: Auch die situativen Faktoren spielen beim Geschmackserlebnis eine große Rolle. Es macht geschmacklich einen großen Unterschied, ob ich eine Speise entspannt, glücklich und zufrieden im Freien auf einer Terrasse mit Meerblick, begleitet von den angenehmen Geräuschen und Gerüchen des Meeres, zu mir nehme oder zu Hause am Küchentisch nach einem hektischen Tag im Büro.

STANDARD: Hat sich durch Convenience- oder Fastfood unsere Geschmackswahrnehmung verändert?

Dürrschmid: Wer viel von stark gesalzenen, gewürzten oder aromatisierten Lebensmitteln isst, adaptiert seinen Geschmack auf dieses Salz-, Zucker- und Aromaniveau. Weniger salzige Lebensmittel empfinden wir dann einfach als langweilig. Wir haben das an zehn- bis 13-jährigen Kindern untersucht. Konkret ermittelten wir ihre Ernährungsweise und die Geschmacks- beziehungsweise Geruchswahrnehmungsfähigkeiten. Es zeigte sich, dass jene Kinder, die viel gesüßte Getränke konsumierten, hochsignifikant schlechter im Erkennen der Grundgeschmacksarten waren. Kinder, die viel Fastfood und Weißbrot aßen, waren deutlich schlechter im Identifizieren von Gerüchen. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem Konsum solcher Produkte und den Geschmackswahrnehmungsfähigkeiten. Es könnte aber auch sein, dass Kinder, die – genetisch bedingt – schlechtere Wahrnehmungsfähigkeiten aufweisen, intensiver schmeckende Nahrungsmittel bevorzugen.

Klaus Dürrschmid: Zungenbekenntnisse. Warum der Wein im Urlaub besser schmeckt und andere Fakten und Wunder aus der Welt der Sinne. Brandstätter-Verlag, Wien 2020. 240 Seiten, 22 Euro.
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STANDARD: Der Geruchs- und Geschmackssinn nimmt mit dem Alter ab. Was kann man dagegen tun?

Dürrschmid: Leider ist dieser Degenerationsprozess nur schwer aufzuhalten. Man kann aber ein wenig dagegensteuern, indem man sich häufig mit Gerüchen auseinandersetzt und den Geruchssinn trainiert. Im Alltag immer wieder an den Kräutern riechen, die beim Zubereiten der Speisen verwendet werden. Sich bewusst machen, wie Rosmarin, Salbei oder Paradeiser riechen. Oder bei Spaziergängen an den Blumen schnuppern. Und über diese Wahrnehmungen reden. Das kann helfen.

Die Aversion gegen bestimmte Lebensmittel oder Speisen kann erlernt sein. Bei Klaus Dürrschmid sind es Grammeln.
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STANDARD: Gibt es Geschlechterunterschiede in den Geschmackswahrnehmungsfähigkeiten?

Dürrschmid: Frauen können verdorbenen Lebensmittel besser erkennen als Männer, da sie eine bessere Wahrnehmung in puncto Geruch und Geschmack haben. Frauen erkennen aber auch verdorbene Lebensmittel visuell leichter. Das kann damit zusammenhängen, dass die Ernährung der Frauen für die Fortpflanzung und das Überleben der Nachkommen wichtiger war als jenes der Männer. Es könnte aber auch sein, dass Frauen, bedingt durch ihre Sozialisation, eine größere geschmackliche Sensibilität entwickelt haben.

STANDARD: Was schmeckt Ihnen überhaupt nicht?

Dürrschmid: Ich komme zwar aus dem Mühlviertel, mein Großvater war Tierarzt und brachte immer den besten Speck von den Bauern mit, doch vor Grammeln ekelt mir. Das hat wahrscheinlich mit dem sogenannten Geschmacksaversionslernen zu tun. Bei mir passierte Folgendes: Nachdem ich Grammelknödeln gegessen hatte, war mir am nächsten Tag übel, und ich hatte Durchfall. Das Gehirn stellte eine unbewusste Verknüpfung her, die lautete: "Grammeln sind böse, und sie schaden deiner Gesundheit" – obwohl sie womöglich überhaupt nichts mit meinem Zustand zu tun hatten. Diese Aversion ist mir bis heute geblieben. (Günther Brandstetter, 5.2.2020)