Fahnen flattern, Pferde wiehern, Wagenräder knacksen, Frauen kreischen, Männer rufen zum Herrgott. Wenn dieser Besuch im Viergespann durch die Straßen donnert, heißt es für fromme Väter und Mütter aufpassen: Haltet eure Töchter fest, Gentleman Jack ist in der Stadt!

Wer in den Armen von Anne "Gentleman Jack" Lister (Suranne Jones, li.) liegt, hat nichts zu befürchten. Außer natürlich, verführt zu werden, worauf im vorliegenden Fall alles hinzusteuern scheint.
Foto: HBO / Sky

Und das ist ein Glück, denn nur Jack höchstpersönlich kann die Reisenden retten, weil der Kutscher aufgrund eines Frontalzusammenstoßes ausfiel. Was für ein Gentleman, dieser Jack! – Pardon, diese Jack. Denn hinter dem Spitznamen verbirgt sich eine Frau, Anne Lister, die aufgrund ihrer Vorliebe für Herrenkleidung und Zylinderhut rein optisch mehr Gentleman als Lady ist und aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nach damaliger Redensart "Jack" genannt wird. Wir schreiben das Jahr 1832. Der Ruf der selbstbewussten Verführerin eilt Frau Lister voraus. Wann immer die Dame in ihrem Heimatort Halifax, West Yorkshire, Station macht, scheuen nicht nur die Pferde. Auch manch’ braves Mädchen soll schon erregt in die starken Arme der Gutsherrin gefallen sein. Gütiger Gott.

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Schon die ersten Szenen der achtteiligen HBO-Serie Gentleman Jack bereiten mit ihren kalkulierten Brüchen und Stürzen großes Vergnügen. Es wird aber noch besser. Dafür sorgt schon die Vorlage, denn die tolldreisten Abenteuer der Anne Lister beruhen auf Tatsachen. Ab heute, Mittwoch, sind sie auf Sky Atlantic HD und auf mobilen Diensten von Sky zu sehen.

Lesbische Identität

Lister, geboren 1791, lebte ihre Neigung nicht offen, aber doch recht selbstverständlich und führte darüber penibel Tagebücher. Sagenhafte 7720 Seiten sind davon erhalten. In einem Teil der Einträge schildert sie detailreich intime Beziehungen, reflektiert ihre lesbische Identität und dokumentiert Affären und Verführungsmethoden. Diese pikanten Abschnitte verschlüsselte sie mit einem Code, der in einer Kombination aus Algebra und Altgriechisch bestand und erst in den 1930er-Jahren entschlüsselt wurde. Damit wurde sie bekannt, und deshalb trägt sie heute den Titel "erste moderne Lesbe". Im weitaus größeren, unverschlüsselten Rest beschreibt sie ihr Dasein als selbstbestimmte Gutsbesitzerin und Beobachterin der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ihrer Zeit.

Schließlich haben auch andere Mütter schöne Töchter

Die Serie setzt mit der Rückkehr in das Familiengut Shibden Hall, Halifax, ein. Lister (Suranne Jones) ist wieder daheim im "schäbigen" Herrenhaus mit ihrer "schäbigen Familie", weil es nicht gelang, das Herz der sehr verehrten Vere Hobart zu erobern. Ein schmerzlicher Rückschlag, freilich, doch längst kein Weltuntergang. Also gut, irgendwie doch Weltuntergang, aber lange nicht das Ende. Schließlich haben auch andere Mütter schöne Töchter.

Warum nur stehe ihre Schwester sogar dann im Mittelpunkt, wenn sie nicht da sei, raunzt die nicht minder resolute, aber jungfräulich sittsame Marian (großartig: Gemma Whelan, Game of Thrones). Sorry, Schwester, aber in ihrer Allgegenwärtigkeit ist Anne nun mal unwiderstehlich. Gegenteiliger Ansicht sind höchstens einige Herren, und auch ihretwegen erweist sich Annes Ankunft als goldrichtig. Den Starrköpfen, die ihre Kohleminen untergraben, muss man beikommen.

Die Herren der Schöpfung müssen früh aufstehen, wenn sie sich mit dieser Lady anlegen wollen.
Miss Anne Lister droht nicht nur mit dem Stock – wenn nötig, würde sie davon auch Gebrauch machen.
Foto: HBO / Sky

TV-Serien mit Lesben gab es bereits des Öfteren. In Orange Is The New Black saßen sie zusammen im Knast, The L Word erhielt nach elfjähriger Unterbrechung soeben eine Fortsetzung. Gentleman Jack spielt mit der Nostalgie von Downton Abbey und dem historisch-feministischen Charme von The Favourite. Das Drehbuch schrieb die Britin Sally Wainwright, bei vier Folgen führte sie auch Regie.

Wainwright wurde einem größeren Publikum bekannt mit der Krimiserie Happy Valley. Die Anne Lister inszeniert Wainwright leichtfüßig und schwungvoll und mit unverkennbarer Zuneigung zu einer Figur, die sich selbstbewusst und couragiert über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt und dabei niemals ihre Identität verleugnet. Den zeitgemäßen Touch erhält Gentleman Jack im Erzählstil, wenn Lady L. wie Phoebe Waller-Bridge in Fleabag die sogenannte "vierte Wand" durchbricht und die Zuschauer direkt anspricht und im Spiel mit der Kamera diese Serie sogar zitiert ("Wo schaust du denn die ganze Zeit hin?").

Romanze in Serie

Gentleman Jack debütierte im April 2019 auf HBO und BBC und entwickelte von Beginn an eine gewisse Sogkraft auf ihr Publikum. Die Orte des Geschehens sind längst Besuchermagnete geworden. Seit das Herrenhaus in West Yorkshire mit seiner markanten Fachwerkfassade berühmt geworden ist, stürmen Touristen den Drehort. Täglich zwischen 300 und 400 Touristen wollen den Platz sehen, an dem Anne Lister die Frauen verführte. Teile der Serie wurden an diesem Originalschauplatz gedreht.

Anne Lister (Suranne Jones) und Ann Walker (Sophie Rundle), Liebe ihres Lebens.
Foto: HBO / Sky

Die "echte" Anne war übrigens weniger Gutsfrau als mutige Abenteurerin. Mit ihrer Frau Ann Walker (Sophie Rundle) – die in der Serie Mittelpunkt des romantischen Liebeswerbens der Lister ist – reiste sie quer durch Europa, bestieg als erste Frau den Monte Perdido, den dritthöchsten Berg in den spanischen Pyrenäen. Später bereiste sie Frankreich, Dänemark, Schweden und Russland.

Sie kam bis zum Kaukasus, den damals nur wenige westliche Besucher erreichten – und noch weniger alleinreisende Frauen: "Die Leute kommen herein und sehen uns an, als wären wir seltsame Tiere, die so etwas noch nie zuvor gesehen haben", schrieb Lister in ihr Tagebuch. Sie starb im September 1840 mit 49 Jahren im heutigen Georgien. Eine zweite Staffel von Gentleman Jack ist im Werden. Es gibt noch viel zu erzählen. (Doris Priesching, 29.1.2020)

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