Im Gastkommentar erinnert Heidi Glück, Strategieberaterin und ehemalige Sprecherin von Kanzler Wolfgang Schüssel, vor der ersten Regierungsklausur daran, dass die neue Koalition einen belastbaren gemeinsamen Teamspirit braucht.

Am Mittwoch beginnt die erste türkis-grüne Klausur in Krems. Davor stand noch eine Angelobung für jene Kabinettsmitglieder an, deren Zuständigkeiten sich nachträglich geändert hatten.
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"In Österreich haben sie schon einen Kompromiss, bevor sie ein Problem haben", ätzte einst Erhard Busek. Der Vizekanzler aus den Neunzigerjahren beschrieb in dem ironischen Bonmot ein politisches Baugesetz der Zweiten Republik: den Kompromiss. Jahrzehntelang waren große Koalitionen auf der Suche nach Schnittmengen zwischen den heterogenen sozialdemokratischen und bürgerlichen Positionen – Harmonie war die rot-weiß-rote DNA, verstärkt noch durch die Schattenregierung der Sozialpartner. Das Modell des kleinsten gemeinsamen Nenners ist weder bei den Regierenden noch bei den Wählerinnen und Wählern ein Erfolgsrezept. Zu groß war am Ende das Effizienzdefizit der rot-schwarzen "Vernunftehen".

Jetzt feiert der pragmatische Kompromiss ein Comeback unter neuen Vorzeichen. Zwar sind Türkis und Grün zwei Lagerparteien wie einst Schwarz und Rot, aber in der Machtmechanik geht man innovativere Wege. Keine "Spiegelminister" mehr, die jedem Vorhaben der anderen Seite schon im Vorfeld zustimmen müssen, keine Blockadedrohungen im Ministerrat. Die neue Zauberformel lautet: "Leben und leben lassen."

Hegemoniale Attitüde

Den Lackmustest des politischen Alltags muss das neue Drehbuch allerdings erst bestehen, aber der Versuch ist ebenso interessant wie die in der Europäischen Union avantgardistische Mitte-rechts-grün-Konstellation, die Jürgen Trittin treffend eine Komplementärkoalition nennt. Jeder hat seine Themen und Domänen, seine Handschrift und seinen "Fußabdruck", sein Heimspiel und sein Auswärtsspiel und der Clou an diesem neuen Modus Vivendi ist, dass es weniger um ein Dealen geht als um ein Tolerieren. Der Kompromiss als Gesamtkonzept und nicht als Punkt-für-Punkt-Abarbeiten der Programme. Es gilt die politische Vorrangregel und die Ampel blinkt einmal türkis und einmal grün – wir feiern die Verschiedenheit.

Das klingt sehr schön, und man fühlt sich an das EU-Motto "In Vielfalt geeint" erinnert, aber wie weit geht die Toleranz in der Praxis – zwischen doch ungleich starken Partnern? Da sind Eigenschaften gefragt, die auf den ersten Blick nicht so recht zur ÖVP passen könnten: Verzicht und gewähren lassen. Die ersten politischen Frontstellungen der jungen Koalition zeigen, dass die Volkspartei vor allem bei "ihren" Themen eine gewisse hegemoniale Attitüde an den Tag legt – vom Uno-Migrationspakt über das Kopftuch bis zur Sicherungshaft.

Luft zum Atmen

Das ist nach der neuen Feinmechanik des Regierens logisch und legitim, aber es darf den Grünen nicht die Luft zum Atmen nehmen. Rücksicht und Sensibilität, wie sie Sebastian Kurz bei den Verhandlungen geübt hat, sind ebenso in der Startphase gefragt. Auch bei den Leib-und-Magen-Themen der ÖVP wie etwa Migration oder Standort haben Werner Kogler und die Grünen ihren Wählern etwas versprochen. Wenn sie nur mit den Achseln zucken, aufs Regierungsprogramm verweisen und "We agree to disagree" sagen können, dann wird das neue Toleranzpatent womöglich überfordert.

Besonders spannend wird es auf jenen Feldern, in denen die Grünen den Gestaltungsprimat haben, also bei den Kompetenzen ihrer Ministerien. Die sind – obwohl man der Ökopartei zu viel Nachgiebigkeit in den Ressortverhandlungen vorgeworfen hat – nicht ohne: Klimapolitik, Infrastruktur, Verkehr, Energie, Soziales, Gesundheit, Pflege, Justiz, Datenschutz, Technologie, Innovation, Kultur und dazu die ökologische Komponente der Steuergesetzgebung.

Wichtige "Klimapflege"

Es ist schwer vorstellbar, dass bei all diesen Politikbereichen die Grünen immer das letzte Wort haben werden. Was hätten dann die Bereichssprecher der ÖVP bei diesen Kapiteln zu sagen? Man wird sich auf intelligente Weise finden müssen, auch wenn jede Menge ideologische Brisanz wartet. Die Grünen werden ihren regierungsmäßigen Routinerückstand Schritt für Schritt wettmachen. Wenn sie auf Augenhöhe sind, müssen sie lernen, mit ihrer frischgewonnenen Macht diszipliniert und moderat umzugehen. Auch sie tragen Verantwortung für die Nachhaltigkeit dieser Zusammenarbeit.

ÖVP und Grüne haben ein gemeinsames Fundament gefunden, das über "Klima und Grenzen schützen" hinausgeht. Das Regierungsübereinkommen ist ein guter Plan für ein besseres Österreich. Das "Beste aus beiden Welten" kann es aber nur geben, wenn die Partner wertschätzend miteinander umgehen und in die "Klimapflege" viel investieren. Was der Wähler an Türkis-Blau am meisten schätzte, war der respektvolle Umgang der Akteure. Unter der professionellen Regie der Volkspartei hat das gut funktioniert. Jetzt ist es schwieriger geworden. Je kleiner die Schnittmenge, desto mehr sind politische Inklusion und Einfühlungsvermögen vonnöten. Koalieren sozusagen wie Igel bei der Liebe.

Gemeinsamer Teamspirit

Wo Unzufriedenheit herrscht, gärt es. Das gilt für beide Seiten. Ein Fünfjahresprojekt braucht einen belastbaren gemeinsamen Teamspirit. Wolfgang Schüssel verwendete das Bild vom Hirtenhund, der die Herde umkreist. Kurz ist sowohl ein Macher als auch ein Zuhörer. Das ist die beste Voraussetzung dafür, dass Türkis-Grün eine Erfolgsgeschichte wird. Und dass aus "Leben und leben lassen" nicht "Live and let die" wird.

Die erste türkis-grüne Regierungsklausur wird daher auch ein erster Gradmesser dafür sein, wie viel echtes Grün in den nächsten Politikprojekten stecken darf. Und wie hoch der Konsens sowohl beim politischen Themensetting als auch beim medialen Verkauf ist. (Heidi Glück, 28.1.2020)