Wir alle müssten dagegen votieren, ständig in Konkurrenz zueinander gesetzt zu werden, so der Soziologe Stephan Lessenich.

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Stephan Lessenich, "Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem". € 6,20 / 119 Seiten. Reclam, Ditzingen 2019.

Dass wir uns in Zeiten der Postdemokratie befänden, ist eine bekannte These. Doch wie können wir uns in eine gute alte Demokratie zurückwünschen, wenn es sie im Grund nie gegeben hat? Diese Frage stellt der deutsche Soziologe Stephan Lessenich, der auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien über echte politische Teilhabe und die sozioökonomischen Hürden auf dem Weg dorthin gesprochen hat.

STANDARD: Inwiefern sind unsere Demokratien undemokratisch? Wir leben ja schließlich in einer.

Lessenich: Mir geht es nicht um Demokratie im Sinne eines politischen Systems und dass es eine funktionierende Gewaltteilung gibt, sondern um die soziologische Perspektive: dass Demokratie eine Lebensform ist, eine Übereinkunft, wie man als Gesellschaft zusammenleben will. So gesehen steht Demokratie für eine Gesellschaft, in der die Bürgerinnen und Bürger sich wechselseitig Rechte zugestehen und alle das Recht haben, an der Gestaltung der gemeinsamen Lebensverhältnisse mitzuwirken. Unabhängig davon, ob sie viel oder wenig verdienen, ob sie zugezogen sind oder nicht. So betrachtet schneidet die gegenwärtige Demokratie in Österreich oder Deutschland eher schlecht ab.

STANDARD: Abgesehen von dem Ausschluss über das Wahlrecht: Wer kann nicht mitbestimmen?

Lessenich: In einer kapitalistischen Ökonomie wie der unseren ist der gesamte Bereich des Arbeitens der Demokratie entzogen. Wir haben zwar Mitbestimmungsrechte in Betrieben, aber zentrale betriebliche Entscheidungen, von den Arbeitsbedingungen bis hin zur Entlohnung, werden nur teilweise über Kollektivverträge geregelt. Darüber hinaus haben wir als Arbeitende kaum Möglichkeiten, unsere Arbeitsbedingungen zu beeinflussen. Es ist bemerkenswert, dass dieser zentrale Bereich unseres persönlichen Lebens der demokratischen Beteiligung weitgehend enthoben ist.

STANDARD: Wer verhindert diese Teilhabe?

Lessenich: Vor allem jene, die die meisten Rechte haben, das ist eine erste vertikale Achse, die Ausschlüsse produziert. Nehmen wir den Massentourismus als Beispiel: Die Wohlbetuchten regen sich auf, dass jetzt alle dorthin fahren, wo es früher so schön einsam war. Plötzlich werden da hässliche Hotelsilos gebaut, und die Prolls promenieren in billigen Klamotten. Da kann man ja jetzt nicht mehr hinfahren! Also die, die bestimmte Rechte exklusiv hatten, fürchten darum, dass die vielen, die Hinz und Kunz, auch berechtigt werden könnten. Und dann leben wir natürlich in einer Konkurrenzgesellschaft, das heißt, all diejenigen, die nicht oben stehen, sind ständig angehalten, sich den anderen gegenüber durchzusetzen. Das, was die Reichen und Mächtigen vom Kuchen übrig lassen, darum streiten wir uns. Wenn ich auch Journalist wäre wie Sie, würde ich hoffen, dass sie nicht allzu erfolgreich sind, damit irgendwann mein eigener Arbeitsplatz nicht gefährdet ist. Schließlich gibt es noch eine dritte Achse, die eine nationalgesellschaftliche ist. Aus der Überlagerung dieser verschiedenen Herrschafts- und Konkurrenzverhältnisse ergeben sich die unterschiedlichsten Abstufungen der Berechtigungen in einer Gesellschaft.

STANDARD: Demnach kann es im Kapitalismus keine Demokratie geben?

Lessenich: Das würde ich so sagen: Viele Ausschlussprozesse laufen entlang ökonomischer Ungleichheiten, wenn auch nicht alle. Für mich ist klar, dass diese erste vertikale Achse, die ich beschrieben habe, eine klassengesellschaftliche Achse ist. Und wenn man Demokratie so fasst, dass alle entlang dieser Hierarchie gleiche Möglichkeiten haben müssten, ihre Lebensverhältnisse mitzugestalten, heißt das: Das geht im Kapitalismus nicht. Weil der beruht darauf, dass manche besitzen und viele nicht. Es gibt in der Wissenschaft aber auch Unmengen an Literatur, die sagt: Kapitalismus und Demokratie, das ist eine Wahlverwandtschaft. Kapitalistische Gesellschaften werden historisch demokratisch und demokratische Gesellschaften sind im Grunde genommen Marktgesellschaften, die über die Teilhabe an Märkten vielen Menschen ein relativ gutes Auskommen ermöglichen. Aber da geht es ja nicht um die Frage nach gleichen Gestaltungsrechten.

STANDARD: Die Menschen wählen selbst Parteien, die den Wohlfahrtsstaat zurückfahren. Warum arbeiten wir an der Beschneidung der Mitbestimmung mit?

Lessenich: Ja, das ist ein Rätsel. In linker Gesellschaftskritik wird das oft nur auf den Kapitalbesitz und große Konzerne zurückgeführt, und natürlich ist das zentral für diese Ungleichheit. Aber man müsste versuchen zu erklären, warum breite Bevölkerungsschichten, die nicht zu den Herrschenden gehören, diese Herrschaftsverhältnisse akzeptieren; warum viele, die in Konkurrenz nicht reüssieren können, trotzdem sagen, Wettbewerb ist eine gute Sache? Wir sind in diese Verhältnisse reingewachsen, und wir entwickeln daher keinen Sinn dafür, wie eine Demokratie aussehen könnte, die es allen ermöglicht, über die eigenen Lebensumstände mitzubestimmen.

STANDARD: Die letzte größere demokratiepolitische Debatte drehte sich um die Einschränkung durch Internetkonzerne wie Facebook. Haben Sie das auch so erlebt?

Lessenich: Ja, und das ist schon interessant, denn jeder Einzelne von uns betreibt das Geschäft von Google, Amazon und Facebook freiwillig mit. Gut, jetzt kann man diskutieren, wie freiwillig das ist. Aber in der Alltagspraxis ist es relativ einfach, das Problem auf andere zu projizieren – oh diese bösen Monopolisten, denen müssten gesetzlich Grenzen gesetzt werden. Dabei machen wir ja selber alle mit. Es sind nicht nur fremde Mächte – Trump, China, die Konzerne –, die unsere Demokratie gefährden, wir selbst haben an ihrer Aushöhlung einen Anteil. Jedenfalls dann, wenn uns wenig daran gelegen ist, unser Leben bestimmende Dinge mitbestimmen zu wollen.

STANDARD: Was können wir dagegen tun?

Lessenich: Unsere Institutionen sind so gebaut, dass bestimmte Möglichkeiten der Partizipation gar nicht in den Blick kommen. Die Institutionen müssten umgebaut werden, damit sie mehr Beteiligungsrechte gewährleisten: in der Arbeit, in der Freizeit, im Wohnumfeld usw. Aber das wird nur geschehen, wenn es Druck von unten gibt. Ich kann mir keine Eliten vorstellen, die sagen: Ich hab es nochmal überdacht und finde, alle sollten mehr teilhaben. Das müssen jene fordern, die sich auf den verschiedenen Achsen für unterprivilegiert halten. Von den Lohnabhängigen muss der Streit über die Arbeitsverhältnisse kommen. Und von uns allen müsste ein Votum kommen, dass wir nicht ständig in Konkurrenz zueinander gesetzt werden möchten und die nationalen Grenzen der Berechtigung nicht akzeptieren. Doch dafür muss noch viel passieren, denn wir haben es mit tief verankerten Einstellungsmusstern zu tun, die wir Schritt für Schritt überwinden müssten, wenn man tatsächlich eine Mitgestaltung der Gesellschaft auf breiter Basis gewährleisten will. (Beate Hausbichler, 4.2.2020)