Rechterhand öffnet sich der Wald und gibt die Sicht auf die Chivyrkuyskiy-Bucht frei, die als stille Nebenbucht des Baikalsees tief verschneit ist. Die wundersamen Eisformen im durchsichtigen, zig Zentimeter dicken Eis des Baikalsees sind hier von einer dicken Schneelage unseren Blicken entzogen. Am Ostufer der Bucht erkennen wir das verschneite Bargusingebirge und erahnen die höchsten Erhebungen, die bis zu 2.700 Meter erreichen. Von der Westseite der Heiligen Nase sind es etwa 60 Kilometer über den Baikalsee bis zu den Steilküsten der Insel Olchon. Dazwischen erreicht der Baikalsee mit 1.600 Metern seine tiefste Stelle. Hier bricht der eurasische Kontinent seit zig Jahrmillionen auseinander und bildet den tiefsten Süßwassersee der Erde. Jährlich öffnet sich der Graben um zwei Zentimeter. Zwischen den Randgebirgen und dem Grabenbruch liegen 4.000 Meter Höhendifferenz. Deswegen ist der See auch reich an geothermalen Quellen.

Tiefer Schnee bedeckt die stille Bucht vor dem Bargusingebirge.
Foto: Christoph Ruhsam

Das Geschrei des Sees

Am Kap Choboi der Seeinsel Olchon verschieben unterschiedliche Wasserströmungen und Winde die Eisoberfläche, reißen sie auf und formen glasklar-bläuliche Eisplattenverwerfungen, die an arktische Küsten erinnern. Sonst ist der See, der von Dezember bis März komplett zugefroren ist, wegen der fehlenden Gezeiten nahezu eben und wegen der geringen Niederschläge spiegelglatt. Das stetige Arbeiten des Eises durch Wind und Sonneneinstrahlung bildet unter lautem Knallen – wie das verhaltene Geschrei des Sees – weiße, federfeine Risse in allen Strukturen im grünlich-schwarzen Eis. Wir wandern mit Steigeisen gesichert zwanzig und mehr Kilometer zwischen den Inseln des kleinen Meeres der Olchon-Insel umher und studieren diese Eisformen. Durch den Blick nach unten entstehen mit der Wanderbewegung dreidimensionale Gebilde, die sich in der Perspektive ständig verändern und je nach Sonnenstand in allen Regenbogenfarben schillern.

Eisverwerfungen am Kap Choboi.
Foto: Christoph Ruhsam
Was ist der Mensch in der Mitte des sibirischen Winters?
Foto: Christoph Ruhsam
Meterlange Tatzen eines Baikaldrachen.
Foto: Christoph Ruhsam

Über die Eisstraßen

Die Rissstrukturen des Eises reichen häufig von der Eisoberfläche bis an dessen Unterkante, können aber auch oberflächlich verästelt verlaufen. Im Hochwinter erreicht das Eis Dicken von 50 bis 100 Zentimeter und wird von den Anwohnern als Erweiterung der spärlichen Straßeninfrastruktur genützt: Einige offiziell ausgeschilderte Eisstraßen beginnen nahtlos dort, wo die Schotterpisten oder Asphaltstraßen am See enden. Verkehrsschilder mit Gewichts- und Geschwindigkeitsbeschränkungen ragen aus dem Eis heraus und zeigen zumindest den Beginn der Eisstraße an. Unzählige wilde Eispisten entstehen dort, wo das Eis hinreichend glatt ist und das Erreichen von Ortschaften ohne Straßenanbindung ermöglicht. Wir queren auf dem Weg zur Heiligen Nase den See direkt über die tiefste Stelle von Westen her kommend in einem Konvoi von vier Transportern mit einem der erfahrensten Navigatoren aus Ust-Bargusin. Kiefernbüschel, ins Eis hineingebohrt, sind die einzigen spärlichen Wegweiser. So erhält der See zumindest im Winter seinen Bewuchs von grünen Zweigen. Aber die Risse der Eisoberfläche spielen ihr eigenes Spiel.

Mit lautem Knall öffnen sich Spalten in der Eisoberfläche.
Foto: Christoph Ruhsam
Unerschöpfliche Vielfalt der Eismuster.
Foto: Christoph Ruhsam
Baikal-Eiskunst.
Foto: Christoph Ruhsam
Felsinseln im kleinen Meer des Baikalsees.
Foto: Christoph Ruhsam

Schwierige Querung

Der Konvoi muss einige Male vor frisch entstandenen Spalten haltmachen und viele Kilometer entlang der ein bis zwei Meter hohen Eiswälle fahren, bis ein tragfähiger Übergang gefunden war. Die Anspannung im Team steigt, wenn es solche unerwarteten Hindernisse zu umfahren gilt. Angeblich versenken die Russen jedes Jahr einige Autos im See durch unachtsames, unter dem Einfluss von Wodka enthemmtes Fahren. Erleichterung steht uns allen ins Gesicht geschrieben, als wir eine mächtige Eisverschiebung nach einer Stunde Herumprobieren erfolgreich queren und die Flussmündung des Bargusin in den Hafen entlangfahren und endlich wieder eine feste Schneefahrbahn unter den Rädern haben.

Offizielle Baikal-Eispiste.
Foto: Christoph Ruhsam
Querung des Baikalsees birgt immer unvorhersehbare Eisverhältnisse.
Foto: Christoph Ruhsam
Eispiste, die keine mehr ist – Markierungen zeigen an, wo man besser nicht mehr fährt.
Foto: Christoph Ruhsam

Wilder Osten

Die Fahrt entlang und über das Schneeeis der Bucht gibt uns Zeit, den Morgen willkommen zu heißen, bevor wir die verlassene Siedlung aus Rundholz-Hütten erreichen, die unseren Eindruck des "Wilden Ostens" gänzlich festigt. Sibirische Häuser sind mit einem hohen Holzzaun umgeben, durch den man nicht ins Innere sehen kann. Die Privatsphäre in der ewig weit wirkenden Taiga soll respektiert werden. Auf dem verschneiten Eis des Sees stehen burjatische Jurten-Rundzelte oder russische Holzhütten auf Schlittenkufen und sind durch Schneepisten verbunden, jede hat unter sich einige Löcher in der Eisdecke und einen Eisenofen, um das lange Warten auf den Fischbiss beim Eislochfischen erträglicher zu machen.

Sibirische Siedlung in traditioneller Holzbauweise.
Foto: Christoph Ruhsam
Burjatische Jurten zum geschützten Eislochfischen am See.
Foto: Christoph Ruhsam
Eislagerfeuer nach russischer Art.
Foto: Christoph Ruhsam
Warten auf die Omulsuppe.
Foto: Christoph Ruhsam

Auch wir haben den lokalen Omul in unzähligen Zubereitungsarten kennengelernt – roh, eingelegt in Salzlake und Öl, gekocht in der Suppe und gebraten mit Kartoffeln serviert. Am eindrucksvollsten war sicherlich das Lagerfeuer direkt auf dem Eis, von mitgeführten Holzscheiten genährt, um etwas Wärme in die Kälte des sibirischen Winters zu bringen, über dem Feuer ein Suppentopf mit Omulstücken und eine Blechkanne voll von starkem Schwarztee. Ein Klapptisch mit emailliertem Blechgeschirr obendrauf und Klappsessel, und schon ist die gemütliche Baikaljause bei minus 15 Grad Lufttemperatur genussfertig. Sibirisches Winterherz, was begehrst du mehr? (Christoph Ruhsam, 31.1.2020)