Zahlende User bedeuten auch anderes Arbeiten für Journalisten: Amanda Michel.


Foto: Alexandra Eizinger

Eine Million Menschen haben eingezahlt, mehr als 300.000 Spenden gingen in den vergangenen zwölf Monaten ein: Aufrufe zu freiwilligen Beiträgen (und begleitende Sparmaßnahmen) haben die – digital global erfolgreiche – britische Qualitätszeitung The Guardian 2019 erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder in die schwarzen Zahlen gebracht. Amanda Michel, Global Contributions Director, erklärt, wie das geht.

STANDARD: Medienhäuser experimentieren mit einer Vielzahl von Bezahlschranken und anderen Bezahlvarianten. Was veranlasste den "Guardian" dazu, auf freiwillige Beiträge des Onlinepublikums zu setzen?

Michel: Das erklärt sich aus unserer einzigartigen Eigentümerstruktur und unseren Werten. Die Familie von C. P. Scott, dem verehrten Herausgeber und Eigentümer, der den Guardian durch die letzte Jahrhundertwende führte, hat die Anteile am Guardian dem Scott Trust überantwortet. Anders als viele Medienhäuser sind wir nicht Aktionären oder einem Milliardär verpflichtet, sondern alleine dieser nicht gewinnorientierten Gesellschaft. Unser Ausgangspunkt war also: Unser Journalismus soll weiter für jeden und jede offen zugänglich bleiben, unabhängig davon, was die Userinnen und User sich leisten können. Diese Offenheit hilft uns bei unserem Zugang zum Journalismus.

STANDARD: Inwiefern?

Michel: Unsere Leserinnen und Leser sind integraler Bestandteil unserer Berichterstattung, die Redaktion pflegt und schätzt seit langem den Austausch mit ihnen. Die Leser teilen ihre Tipps und ihre Einblicke mit uns. Sie bieten uns Feedback. Sie ermöglichen uns, offen zu bleiben für Kritik und Diskussion. Wir experimentieren wie andere Redaktionen – mit neuen Technologien, neuen Formaten und neuen Formen der journalistischen Darstellung. Offener Zugang zu unserem Journalismus bedeutet ein größeres Publikum für das, was wir tun. Und im letzten Jahrzehnt ist unser Publikum dramatisch gewachsen, fast zwei Drittel unserer Leser leben außerhalb von Großbritannien und Nordirland.

STANDARD: Der "Guardian" hat sich also dafür entschieden, die Userinnen und User online um freiwillige Beiträge zu bitten ...

Michel: Wir haben im Grunde zwei Modelle – Beiträge und Abos. Die Leser können sich entscheiden, uns mit Beiträgen zu unterstützen, also zu spenden, ob einmalig oder mit einem monatlichen oder jährlichen Beitrag. Und sie können sich für ein Abonnement entscheiden, gedruckt oder digital.

STANDARD: Was war die Überlegung hinter den Spenden?

Michel: Die Grundidee war: Ob die Menschen nun ein Produkt von uns kaufen oder eine freiwillige Spende überweisen – sie glauben an unsere Mission. Alle unterstützen spezifisch den Zweck des Guardian und die Kraft unseres Journalismus in aller Welt. Und wir wollen alle anerkennen, wie auch immer sie uns unterstützen wollen.

STANDARD: Was motiviert Leserinnen und Leser zu spenden?

Michel: Das lässt sich fast immer auf drei Motive zurückführen: die Qualität unseres Journalismus, unsere Werte und unsere unabhängige Eigentümerschaft. Fairerweise muss man dazusagen: Einige davon zahlen, weil sie unsere Berichterstattung auf eine spezifische Art nutzen wollen. Vielleicht mögen sie es, unsere Artikel in der Guardian Live App zu lesen. Vielleicht wollen sie sich nicht durch ein endloses Angebot an tagesaktuellem Journalismus arbeiten und bekommen lieber von unserer Redaktion nur die wichtigsten Storys für sie aufbereitet.

STANDARD: "New York Times" und "Washington Post" profitieren in ihren Pay-Strategien stark von ihrer Haltung gegenüber einem US-Präsidenten, der von Wahrheit, Journalismus und Medienfreiheit nicht viel wissen will.

Michel: Was in der Welt passiert, motiviert zur Unterstützung: das schrumpfende Ökosystem Australiens, Trumps Angriffe auf die Medien, die besorgniserregende Klimakrise. Große Nachrichtenereignisse und spektakuläre Enthüllungen wie unsere Recherchen über Cambridge Analytica führen ebenfalls zu Spitzenwerten in der Unterstützung unserer Leser. Während der Parlamentswahlen in Großbritannien hatten wir Höchstwerte sowohl in den Zugriffen als auch in den Beiträgen der User. Unsere Berichterstattung über die Klimakrise, unsere große Tradition des investigativen Journalismus, die Diversität der Stimmen in unserer Community – all das motiviert Leser ebenso, uns zu unterstützen. Aber viele sehen auch andere Gründe zu spenden, von unserer Kulturberichterstattung bis zu unseren langen Lesegeschichten.

STANDARD: Eignet sich das Beitrags- oder Spendenmodell aus Ihrer Sicht für andere Medien – und für welche?

Michel: Medienhäuser haben unglaublich viel Spielraum, um mit dem Grundprinzip der Supporter-Idee zu experimentieren: offener Zugang zu Journalismus, freiwillig unterstützt von Leserinnen und Lesern. Aber ich würde davon abraten, unser Modell einfach zu kopieren. Wir entwickeln Beitrags- und Aboangebote nach den spezifischen Interessen und Verhaltensweisen der Guardian-Leser. Wir haben ein großes globales Publikum, und Englisch ist zumindest eine geläufige Zweitsprache. Damit können wir in großen Dimensionen experimentieren und ausprobieren. Da tun sich kleine Medienhäuser schwer. Die richtige Umsetzung zu lernen ist zumindest so wichtig wie die Entscheidung für das Modell. Alles muss auf dem Smartphone ganz einfach funktionieren.

STANDARD: Also kein Patentrezept?

Michel: Wir sprechen über Journalismus gerne in sehr breiten, groben Begriffen. Aber das ist eine sehr vielfältige Branche, voller kleiner und großer Medien, nichtkommerzieller und kommerzieller, unabhängiger und staatlicher in Fernsehen, Video, Print, Audio, Blogs, Vlogs und vielem mehr. In einer so vielfältigen Branche wie Journalismus und Medien gibt es viel Spielraum für sehr unterschiedliche Zugänge auch zu diesem Thema.

STANDARD: Was würden Sie Medien raten, die sich für ein Supporter-Modell nach dem Vorbild des "Guardian" entscheiden. Worauf sollten sie achten?

Michel: Unterstellen Sie Ihren Lesern nicht, dass sie spezifische Vorteile oder Zugänge wollen. Fangen Sie ganz einfach an. Und konzentrieren Sie sich auf jene besonderen Werte, die das Medium im Kern ausmachen. Und unterschätzen Sie nicht, wie sehr dieser Zugang davon abhängt, dass Sie Ihre eigene Arbeit, Ihre Unternehmenskultur und Ihre Routinen ändern. Ein Modell für Userbeiträge zu entwickeln und einzuführen ist nicht so einfach, wie einen Trieb auf eine Pflanze zu pfropfen. Es wird Ihre Arbeit hinterfragen, verändern, verrücken. Dafür braucht man Mitarbeiter, die bestehende Abteilungen zusammenbringen und Methodiken verständlich machen können.

STANDARD: Die Guardian Media Group ließ bisher nur verlauten, 2018/19 kamen 24 Prozent der Einnahmen aus dem Kioskverkauf von Zeitungen und 28 Prozent aus Reader Revenues insgesamt. Nun hat der "Guardian" auch noch Einnahmen aus Zeitungsabos (56.000 in Großbritannien, mit "Observer" und "Guardian Weekly" rund 110.000 Abonnenten). Verraten Sie uns genauere Zahlen, womöglich wie viel der "Guardian" allein mit digitalen Userbeiträgen einnimmt?

Michel: In den vergangenen drei Jahren haben mehr als eine Million Leserinnen und Leser einen finanziellen Beitrag an den Guardian geleistet. Wir haben derzeit 190.000 Digitalabos. Alle laufenden, wiederkehrenden Zahler – monatliche oder jährliche Beiträge, Mitgliedschaften oder Abos – zusammen sind mehr als 655.000. Und in den vergangenen zwölf Monaten langten mehr als 300.000 einmalige Spenden ein. Wir nehmen schon seit 2018 mehr digital ein als mit der Zeitung – einschließlich digitale und gedruckte Werbung. Seit 2019 liegen die von Leserinnen und Lesern stammenden Einnahmen über jenen aus Werbung – digital und Print. (Harald Fidler, 29.1.2020)