Stimmengewirr ist gut, Gleichschaltung führt zur Katastrophe: Jochen Wegner.

Foto: Andreas Chudowski

Wie sollen Medien umgehen mit Menschen, die sie nicht mehr lesen wollen? Wie mit jenen, die sie als "Lügenpresse" desavouieren – ein Kampfbegriff der Nationalsozialisten. Jochen Wegner, der Chefredakteur von Zeit Online, über die Menschen, die Medien und ihre Macher im Jahr 2020.

STANDARD: Was kann man von Leserinnen und Lesern lernen – und wie?

Wegner: Digitaler Journalismus hat uns viele Freiheiten in den Darstellungsformen und in der Interaktion mit unseren Rezipienten beschert. Wir können die Medien in alle nur erdenklichen Richtungen weiterentwickeln und ständig Neues ausprobieren. Ob unsere Ideen etwas taugen, lernen wir dann ziemlich schnell durch Feedback – und können darauf ebenso schnell reagieren. Der tägliche Austausch mit Lesern, Hörerinnen, Followern, Zuschauerinnen ist ausgesprochen kostbar. Die Ideen aber müssen wir schon selber haben.

STANDARD: Und was kann man von Nichtleserinnen und -lesern lernen?

Wegner: Jedes erfolgreiche Medium ist auch ein starker Filter – eine klare Zielgruppe zu haben bedeutet schließlich, dass sich Menschen außerhalb dieser Zielgruppe nicht angesprochen fühlen. Ich glaube deshalb nicht, dass wir möglichst viele Menschen erreichen sollten. Der Austausch mit jenen, die wir durch unsere journalistische Arbeit nicht ansprechen, ist deshalb umso kostbarer. Von ihnen lerne ich ebenso viel wie vom Austausch mit unseren Leserinnen und Lesern.

STANDARD: Wie sollen Medien mit jenem Teil der Bevölkerung umgehen, der ihnen, vorsichtig gesagt, skeptisch gegenübersteht? Oder die Medien, weniger vorsichtig gesagt, als "Lügenpresse" ablehnt?

Wegner: Freundlich und klar. Wir machen transparent, wie wir arbeiten, und korrigieren unsere Fehler öffentlich. Wir sollten aber nicht über jedes Stöckchen springen, das man uns hinhält, und jeden Handschuh aufheben, den man uns hinwirft. Ich halte nicht viel von öffentlichem Gerangel. Das beste Gegenmittel gegen die Generalkritik an den Medien sind exzellente Medien.

STANDARD: Was braucht demokratischer Diskurs in der digitalen Welt?

Wegner: Freundliche, glaubwürdige Gastgeber für diesen Diskurs – wie zum Beispiel manche Medien. Einige wachsen da gerade noch einmal in eine neue Rolle hinein, andere scheitern an dieser Aufgabe.

STANDARD: Sie haben Physik und Philosophie studiert, ihre Abschlussarbeit in Physik beschäftigte sich mit der Analyse von Denkvorgängen im menschlichen Gehirn. Was nimmt man da mit für den Journalismus der nächsten Jahre?

Wegner: Ich kann mit Zahlen umgehen, das hilft. Außerdem eine Metapher. Ich habe als Diplomand die Daten von Epilepsiepatienten analysiert, und ein epileptischer Anfall entsteht, wenn die Neuronen anfangen, im Gleichtakt zu schwingen und nicht mehr vielstimmig durcheinanderzusenden. Ich fand das immer ein schönes Bild: Stimmengewirr ist gut, Gleichschaltung führt zur Katastrophe.

STANDARD: Wie sieht – ohne Rücksicht auf Zeit, Geld, Personal, technische Limits – das perfekte Medium des Jahres 2020 aus?

Wegner: Wer alles hat, muss sich keine Mühe geben. Die besten Ideen und Projekte entstehen aus der Beschränkung von Ressourcen. In diesem Sinne gefällt mir DER STANDARD sehr gut. Zeit und Zeit Online machen mir aber auch viel Freude. Perfekt sind sie alle nicht – zum Glück! (Harald Fidler, 29.1.2020)