Ging in die Geräuschschule Helmut Lachenmanns: Clemens Gadenstätter, der über die Voraussetzungen des Komponierens scharf reflektiert.

Foto: Stefan Fuhrer

Wer den Tonspuren von Komponist Clemens Gadenstätter folgt, muss, um im Bild zu bleiben: gut zu Fuß sein. Das Schuhwerk sollte passen, das Temperament nach Möglichkeit sanguinisch sein.

Es gibt Wege hinein in die Neue Musik, die sich gebahnter ausnehmen. Die an postkartentauglichen Klangruinen vorbeiführen, die womöglich auch ebenmäßiger gepflastert sind. Aber selbst eine knapp halbstündige Komposition wie "Sad Songs" (2011/12) – im Kosmos der Neuen Musik bedeutet eine halbe Stunde eine kleine Ewigkeit – verhilft dem Hörer zu einem befreienden Grinsen.

Gadenstätter (53), aus Zell am See gebürtig, kennt keinerlei Berührungsängste vor der Tradition. Eine Flut von Klangereignissen bricht in "Sad Songs" zunächst einmal unsortiert über den Hörer herein. Das Quietschen eines Saxofons rutscht mit den Hochfrequenzgeräuschen einer E-Gitarre zusammen. Man konstatiert die abrupten Wechsel fein gegliederter Phrasen, und man suhlt sich im angenehmen Vibrieren tiefer Klaviersaiten. Die Stimmung entpuppt sich zusehends als funeral. Insofern trägt das Stück, eingespielt vom exzellenten, vierköpfigen Ensemble Nikel, seinen Titel völlig zu Recht.

Energetische Wurzeln

Aber "Sad Songs" verzichtet auf jeden Anflug eines betschwesterlichen Pathos. Clemens Gadenstätters Musikwerkstatt gleicht einer Prüfstelle für musikalische Phrasen. Untersucht wird rhetorisches Kleinholz. Dass der (in Graz lehrende) Komponist dabei von der Emanzipation des Geräuschs ausgeht, wird bei einem Schüler des großen Helmut Lachenmann nicht verwundern.

Es geht u.a. um die Untersuchung der energetischen Wurzeln der Klangmittel. Und apropos Klangrede: Gadenstätters Musik fällt sich häufig genug selbst ins Wort. Als höbe der berühmte Trauermarsch aus den Orchesterstücken op.6 von Anton Webern zögerlich an. Doch die Trauergäste werden vom eisigen Wind der Moderne im Nu in alle Himmelsrichtungen verblasen.

Ein anderes Mal vermeint man, einer Übungssequenz der Frank-Zappa-Band, etwa Anfang der 1970er-Jahre, zu lauschen. Freilich vermindert um die hedonistischeren Anteile eines authentischen Rock’n’Roll-Feeling. Nicht nur der Gelegenheitshörer kommt aus dem Staunen kaum heraus.

Die Publikation seiner prächtigen CD-Box "Semantical Investigations", vollgestopft mit sechs jeweils weit ausgreifenden Halbstündern, hat Gadenstätter mit einem dicken Katalog von Selbstauskünften versehen. Das Erkenntnisinteresse dieses scharf denkenden Musikanten ist stark theoretisch angeleitet.

Verlorene Unschuld

Gadenstätters Reflexionen kreisen sinngemäß um den Moment der (naturgemäß verloren gegebenen) Unschuld. Ab wann schwingt sich das menschliche Gehirn dazu auf, eine musikalische Gestaltenfolge als solche zu identifizieren? Was lösen banale Geräusche wie das Fahrradklingeln beim Verkehrsteilnehmer aus?

Das Zeughaus der Musikgeschichte gleicht einer Stellkammer für rhetorische Figuren. Gewisse Musiken zeigen das Obwalten von Trauer oder Schmerz an, von Erlösung oder Glück. Doch handelt es sich dabei meist um kodifizierte Informationen: um das Stanzblech von "Meinungen", die nicht die eigenen sind. Oder die eben bloß geläufigen Konventionen entsprechen.

Wieviel Vorbildung muss der Gadenstätter-Hörer mitbringen? Der Tonsetzer lässt das Profitum ausgewiesener Kennerschaft kaum gelten. Er sagt ausdrücklich: "Ich rechne nur mit ,Laien‘. Jeder Hörer, jede Hörerin ist in dem Sinn Laie oder auch Profi, weil wir mit jeder individuellen Hörgeschichte Hören erst gelernt haben. Und an diesem Hören arbeite ich!"

Im Gespräch träumt Gadenstätter von einer Musik, in der – durch planvolle Ausdünnung – "die Ereignisse so isoliert werden, dass sie beinahe wie Monolithen im Raum schweben." Nur sei besagter Raum dann eben verwirrend vieldimensional.

Und so sollte man, gutes Schuhwerk vorausgesetzt, durch Gadenstätter-Kompositionen stolpern wie durch Skulpturenparks. Man wird dann vielleicht Echos von Lachenmann und Luigi Nono vernehmen. Derweil sollte man Gadenstätters CD-Box verzückt lauschen (verlegt bei Kairos, u.a. mit dem Klangforum Wien und dem Ensemble Modern). (Ronald Pohl, 30.1.2020)