Hoi Kin Fung: "Man ist kein ganzer Mensch mehr, weil man niemandem mehr vollkommen vertraut, nicht einmal sich selber."

Çagri Çakir

Kwan Lin Mok: "Ich sehe nur, dass Peking noch mehr exzessive Gewalt anwenden wird."

Çagri Çakir

Kwan Ling Mok produziert seit Juli für die renommierte Hongkonger Tageszeitung "Ming Pao" Videos der Proteste in Hongkong. Auch Hoi Kin Fung dokumentiert seit Sommer in Fotos die immer gewalttätigeren Proteste. In der Nacht wechseln sich "Ming Pao"-Redakteure ab, den Newsroom zu "bewachen", damit Schlagzeilen nicht prochinesischer formuliert werden, erzählen sie im Zuge der Fotoausstellung "Stand with Hong Kong Journalists" im Wiener Kunstraum Nestroyhof (noch bis 4. Februar).

Dem STANDARD berichten sie von traumatischen Erlebnissen der letzten Monate.

Tränengas gegen Demonstrierende.
Foto: Hoi Kin Fung ,Ming Pao / Kunstraum Nestroyhof

STANDARD: Was war die gefährlichste Situation, in der Sie waren?

Fung: Die Nacht im November, als die Polizei die Polytechnische Universität (PolyU) stürmte, werde ich nie vergessen. Die Polizei drohte, alle zu belangen, die nicht den Campus verlassen. Mehr als 1000 Protestierende blieben. Die "Ming Pao" hat eigentlich alle Mitarbeiter evakuiert. Ich habe mich aber dazu entschieden, zu bleiben. Damals hatte ich Todesangst. Vielleicht würde die Polizei scharfe Munition verwenden? Die Leute versuchten dann, vom Campus zu fliehen, manche durch die Abwasserkanäle. Ich konnte das nicht glauben, im 21. Jahrhundert, in einer Metropole wie Hongkong! Ich war total geschockt.

STANDARD: Warum blieben Sie?

Fung: Es ist der Job von uns Journalisten. Wir sind die einzigen Chronisten. Was heute passiert, ist morgen Geschichte. Wenn niemand aufzeichnet, was passiert, wird morgen niemand davon wissen. Es ist unsere Pflicht, zu bleiben, sogar wenn sie alle umbringen. Die Öffentlichkeit hat das Recht, alles zu wissen.

STANDARD: Greift die Polizei gezielt Journalisten an?

Mok: Die Polizisten sind der Meinung, dass wir Journalisten auf der Seite der Demonstranten sind. Sie beschimpfen uns oder verwenden starke Taschenlampen, um unsere Kameraaufnahmen zu behindern. Vor allem kleinere Online-Medien werden oft schikaniert. Journalisten werden etwa verhaftet, unter dem Vorwand, dass sie eine Amtshandlung gestört hätten. Dabei halten sie nur eine Kamera und fragen: "Was passiert gerade?" Die Polizisten sind in einem sehr emotionalen Zustand. Die Proteste gehen schon so lang, die Hongkonger hassen sie.

STANDARD: Wie bleiben Sie neutral?

Mok: Wenn ich an der "Frontline" bin, dann greife ich nicht in das Geschehen ein. Ich lasse nur die Bilder sprechen. Ich fühle, dass ich der Wahrheit näher komme. Wenn es heißt, die Demonstranten seien gewalttätig, dann möchte ich den ganzen Kontext zeigen. Ich versuche, Stimmen zu covern, die vernachlässigt werden, und die Frage stellen: Wie gehen die Menschen mit so einem kritischen Moment in der Geschichte Hongkongs um?

STANDARD: Wie bringen Sie die Seite der Regierung und der Polizei ins Bild?

Fung: Von der Regierungsseite und Polizei werden Pressekonferenzen organisiert. Dort sind wir natürlich, jeden Tag um 16 Uhr. Und ich mache auch Interviews mit Polizisten.

STANDARD: Wie gehen Sie mit den traumatisierenden Erlebnissen um?

Fung: Seitdem ich begonnen habe, Fotos von den Protesten zu machen, benutze ich Alkohol, um besser zu schlafen. Denn ich nehme die Intensität der Proteste mit nach Hause. Noch heute fühle ich mich so, als hätte ich einen Teil meiner Seele in der PolyU gelassen. Man ist kein ganzer Mensch mehr, weil man niemandem mehr vollkommen vertraut, nicht einmal sich selber.

Mok: Im Oktober, als die Gewalt so exzessiv wurde, konnte ich zwei Wochen nicht schlafen. Ich habe die ganze Zeit die Tränengaskanonen gehört. Und die schreienden Leute. Die meisten Hongkonger Journalisten haben nicht nur psychische, sondern auch andere gesundheitliche Probleme. Durch das Tränengas, vor allem das abgelaufene Tränengas "Made in China", bekommt man Durchfall und Hautprobleme.

STANDARD: Flauen die Proteste langsam von selber ab?

Mok: Es kommt darauf an, wie viele Menschen gewillt sind, an die Frontlinie zu gehen. Aktuell sind schon mehr als 10.000 Menschen in Haft. Wenn 70.000 Menschen gewillt sind, diesen Preis zu zahlen, dann hätte die Bewegung eine Chance. Das Bewusstsein darüber, dass "Ein Land, zwei Systeme" eine Lüge ist, ist erwacht. Man kann so ein politisches Problem nicht mit Polizeigewalt lösen, nur mit politischen Mitteln. Wenn man jemanden verhaftet, werden andere nachkommen. Es ist wie eine Welle im Ozean. Das wird mindestens einige Jahre dauern.

Fung: Die einzige Option zur Beruhigung ist, dass die Regierung noch mehr Gewalt benutzt, um den Protest zu beenden, bis alles wieder "friedlich" ist. Ich sehe nur, dass Peking noch mehr exzessive Gewalt anwenden wird. (Anna Sawerthal, 30.1.2020)