20 bis 50 Bilder von sich selbst, bis das Selfie optimal ist. Und auch davor und danach ist viel zu tun: zuerst schminken und dann das Bild so bearbeiten, dass man "natürlich" aussieht.

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"Diese Patientinnen brauchen psychologische, nicht plastisch-chirurgische Hilfe", sagt Greta Nehrer, selbst plastisch-ästhetische Chirurgin in Wien.

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STANDARD: Sie sind plastische Chirurgin, also eine Ärztin, die tendenziell sehr viel mit Menschen zu tun hat, die schöner werden wollen. Und gerade Sie machen sich Sorgen um junge Mädchen. Warum?

Nehrer: Als plastisch-ästhetische Chirurgin kann ich durch Eingriffe das Wohlbefinden und Selbstvertrauen von unseren Patienten und Patientinnen verbessern. Das ist eine sehr schöne und verantwortungsvolle Aufgabe. Die Voraussetzung dabei ist und war immer ein stabiles und realistisches Selbstbild der Patientinnen. Eine Störung des Körperbildes, im Fachbegriff eine Dysmorphophobie, ist eine Kontraindikation zur Behandlung. Es kommen aber immer mehr Frauen, die von uns Unmögliches wollen. Vor allem junge Frauen.

STANDARD: Die mit ihrem Aussehen unzufrieden sind?

Nehrer: Genau. Gleichzeitig erscheinen auch Studien in wissenschaftlichen Fachjournalen, die diese Beobachtungen bestätigen. "Die Selbstinzenierung von Mädchen auf Instagram", erschienen in "Jama", beschreibt eine alarmierende Entwicklung der heutigen Mädchengeneration.

STANDARD: Können Sie die Hauptpunkte kurz zusammenfassen?

Nehrer: Für das perfekte Selfie nehmen sich die Mädchen sehr viel Zeit. Meist werden zwischen 20 und 50 Bilder geschossen, bis die Inszenierung passt. Davor wird extrem viel Zeit fürs Schminken aufgewendet, besonders wichtig sind Haare und Körperhaltung. Dann kommt ein Fotofilter wie Facetune, der die Haut optimiert, die Nase verschmälert, die Augen und Lippen größer macht.

STANDARD: Und das braucht zu viel Zeit?

Nehrer: Extrem viel Zeit, weil davor geht es darum, die richtigen Beautyprodukte auszuwählen, sich zu schminken, das richtige Outfit zu wählen. Das vereinnahmt die Mädchen so sehr. Rein intellektuell und inhaltlich ist das auch nicht gerade eine Beschäftigung, die man sich für junge Mädchen vorstellt.

STANDARD: Ist das nicht so eine normale Teenie-Sache?

Nehrer: Zum einen, ja. Im Leben dieser "Selfitis"-Mädchen spielen Influencerinnen eine extrem wichtige Rolle. Sie sind die großen Vorbilder. Doch in den Studien, in denen die Mädchen befragt werden, sieht man einen großen Zwiespalt. Zum einen wird von den Mädchen gefordert, dass sie auf den Selfies fröhlich und gut gelaunt wirken, alles soll total natürlich aussehen. Doch der Prozess des Selfie-Shootens wird nicht als angenehm beschrieben. Es stresst, nervt und frustriert die Mädchen. 75 Prozent aller Mädchen zwischen elf und 19 Jahren nutzen aktiv Instagram, 62 Prozent Snapchat. Es entsteht eine Generation von Frauen, die mit sich selbst unzufrieden sind.

STANDARD: Wächst sich das nicht aus?

Nehrer: Diese Beschäftigung mit dem eigenen Spiegelbild hinterlässt Spuren im Gehirn. Bei Selfies geht es ja nicht nur um das geschönte Bild von sich selbst, sondern auch um die Likes. Diese Mädchen wollen ja gefallen. Und blinken dann diese Likes, entsteht ein positiver Impuls im Belohnungszentrum des Gehirns, der auch beim Essen, Trinken, beim Sex oder bei Drogen stattfindet. Man sieht das sehr schön auf Gehirnscans.

STANDARD: Und?

Nehrer: Wir wissen heute, dass Social Media süchtiger machen als Zigaretten und Alkohol. Die "Selfitis" ist eine Sucht nach Selbstdarstellung und Anerkennung. Für die Studie "Status of Mind" wurden in England 14- bis 24-jährige Instagram-Userinnen nach ihrem psychischen Wohlbefinden befragt und mit einer Gruppe von Nichtuserinnen verglichen.

STANDARD: Mit welchen Ergebnissen?

Nehrer: 50 Prozent berichten von Angstgefühlen und Nervosität, 70 Prozent fühlen sich im eigenen Körper unwohl. Instagram-Userinnen haben auch verstärkt das Gefühl, etwas zu verpassen ("fear of missing out"), viele schlafen schlecht. Die permanente Beschäftigung mit den perfekten Vorbildern führt zu Minderwertigkeitskomplexen, Stimmungsschwankungen und Depressionen. Abgesehen davon: Influencerinnen sind meist nichts anderes als Werbeträgerinnen, über die große Unternehmen ihre Messages verbreiten. Junge Mädchen nehmen sie für bare Münze.

STANDARD: Aber wenn es alle machen, dann tun sich Eltern wohl sehr schwer, hier gegenzusteuern.

Nehrer: Noch nie ist die Kluft zwischen dem wirklichen und dem idealen Aussehen so groß gewesen wie heute. Die junge Mädchengeneration orientiert sich an komplett unrealistischen Schönheitsidealen. Sie können den Unterschied zwischen Illusion und Wirklichkeit ja auch noch gar nicht unterscheiden. Diese geschönten Influencerinnen mit ihren scheinbar idealen Gesichtern und Körpern werden aber zum Ideal. Der Vergleich mit dem eigenen Spiegelbild führt zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und letztendlich zu Körperwahrnehmungsstörungen. In den USA ist das noch viel alarmierender, schon Elfjährige sind betroffen.

STANDARD: Das sind US-Studien?

Nehrer: Über 50 Prozent der plastischen Chirurgen in den USA berichten von Patientinnen, die wie ihr Instagram-Ich aussehen wollen. Dort heißt das auch schon Snapchat-Dysmorphophobie. Das Ausmaß ist besorgniserregend.

STANDARD: Welche Auswirkungen könnte es langfristig haben?

Nehrer: Eine ganze Generation von Mädchen und jungen Frauen beschäftigt sich zwanghaft mit dem eigenen Körper, reduziert sich damit auf das Äußere. Der virtuelle Schönheitswettbewerb unter den Mädchen selbst ist dabei härter als je zuvor. Mädchen sind in ihren Urteilen unerbittlich. Früher waren es Männer, die die Frauen aufs Schönsein und ihre Rolle im Haushalt reduzierten, und heute beschränken sich die Mädchen selbst darauf. Sie machen sich zu Objekten – schlank, zurechtgemacht und sexy. Das ist doch ein Frauenbild wie in den 1950er-Jahren. Schönsein, Mode und Kochen, das war's.

STANDARD: Meinen Sie das im feministischen Sinne?

Nehrer: Auch. Es geht einfach nicht mehr um Individualität. Alle wollen gleich aussehen, und man sieht es ja bereits, sie stylen sich alle auf eine sehr ähnliche Art. Individualität als Wert geht verloren, es gäbe auch viele andere Möglichkeiten der Selbstdarstellung, als die in "Germany's Next Topmodel". Als Abenteurerinnen, Forscherinnen, Politikerinnen zum Beispiel.

STANDARD: Dann müssten Sie aber auch die Behandlung von Mädchen ablehnen, die zu Ihnen in die Ordination kommen.

Nehrer: Eine Störung des Körperbildes, also eine Dysmorphophobie, ist immer eine Kontraindikation für eine ästhetische Behandlung. Diese Patientinnen brauchen psychologische, nicht plastisch-chirurgische Hilfe. Unser Berufsstand sollte sich weniger als Dienstleistungsunternehmen verstehen! Jeder Arzt und jede Ärztin sollte beratend zur Seite stehen. Mein Ziel ist immer ein natürliches, frisches Aussehen meiner Patientinnen für mehr Selbstvertrauen. Eine Bedienung von Schönheitsidealen, die Frauen zu Barbie-Puppen degradieren, ist entwürdigend und aus meiner Sicht abzulehnen. Sie hilft nicht, sondern im Gegenteil, es verschlechtert die Situation der Frauen für ihr ganzes weiteres Leben. (Karin Pollack, 6.2.2020)