Kübra Gümüşay, "Sprache und Sein". € 18,50 / 207 Seiten. Hanser-Verlag, Berlin 2020

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Wie können wir frei sprechen? Diese große Frage stellt Kübra Gümüsay in ihrem Buch Sprache und Sein. Darin analysiert sie die engen Grenzen für viele Menschen, sich ausdrücken zu können, ohne in bestimmte Kategorien gepresst zu werden. Die Aktivistin und Autorin Kübra Gümüşay beschreibt Sprache als jeweils spezifische Architektur, in der manche zu Hause sind und andere draußen bleiben. Deshalb, so Gümüşay, müssen wir uns mit der Architektur der Sprache befassen, "damit wir sein können, wer wir sind".

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STANDARD: Sie waren bis vor einigen Jahren in deutschen medialen Debatten zum Islam und Multikulturalismus sehr präsent, inzwischen nehmen Sie an diesen kaum mehr teil. Warum?

Gümüşay: Nietzsche sagt sinngemäß: Wenn du davon lebst, deinen Feind zu bekämpfen, dann hast du ein Interesse daran, ihn am Leben zu erhalten. Als ich dieses Zitat das erste Mal las, habe ich mich gefragt, ob ich Teil einer Industrie bin, die destruktive Diskurse am Leben erhält. Und habe daraufhin nahezu alle Einladungen zu Diskussionssendungen oder anderen Veranstaltungen abgelehnt und stattdessen in anderen Bereichen gearbeitet, mich dadurch intellektuell wie finanziell losgelöst. Denn in vielen dieser Sendungen ging es nie darum, neue Ideen zu großen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu entwickeln, gemeinsam nach konstruktiven Antworten zu suchen, sondern lediglich um einen inszenierten Schlagabtausch. Vermeintlich absolute Wahrheiten treten gegeneinander an und buhlen um die Gunst des Publikums – und am Ende gibt es eine Gewinnerin oder einen Gewinner. Aber so funktioniert Diskurs nicht. Zudem war meine Rolle eine reaktive Rolle-, und damit war ich mitnichten alleine.

STANDARD: Welche Rolle war das?

Gümüşay: Ich bezeichne diese Rolle als die einer intellektuellen Putzfrau. In diesen Diskussionssendungen wurde irgendetwas Destruktives, Entmenschlichendes, manchmal einfach nur Absurdes in den Raum gestellt, zum Beispiel etwas gesagt, was die Würde des Menschen infrage stellt. Man hat Fragen aufgeworfen, die man in einer pluralen Demokratie, die auf Gleichheit und Gerechtigkeit setzt, in dieser Form eigentlich gar nicht erst diskutieren sollte.

STANDARD: Zum Beispiel?

Gümüşay: Als Alexander Gauland von der AfD behauptete, die Leute würden den Fußballnationalspieler Jérôme Boateng nicht zum Nachbarn haben wollen, entbrannte daraufhin eine Debatte, ob schwarze Menschen gute Nachbarn sein können. Meine Aufgabe wäre es dann in so einem Fall gewesen, hinterherzuräumen: absurde Thesen wie diese zu widerlegen und die Scherben, die solche Aussagen hinterlassen, zusammenzufegen. Doch letztlich kamen diese Redaktionen mit der Diskussion dieser entwürdigenden Fragestellung ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht und Verantwortung nicht nach, die sie stattdessen auf Menschen wie mich abluden. Anstatt bestimmte Aussagen kritisch auseinanderzunehmen und Menschen mit den Folgen ihrer Aussagen zu konfrontieren, wurden wir in diese Sendungen gerufen. So konnte man wiederum rechtfertigen, dass diese menschenverachtenden Positionen überhaupt eine Plattform bekommen. Egal wie gut ich meinen Job auch gemacht habe, war ich dennoch Teil eines destruktiven Systems. Wir werden durch diese Sendungen und inszenierten Debatten nicht schlauer, es gibt keinen neuen Erkenntnisgewinn, und es steht am Ende auch keine Brücke, kein potenzieller Lösungsansatz, mit dem wir gesellschaftliche Konflikte angehen könnten. Stattdessen werden lähmende Schreckensszenarien gezeichnet.

STANDARD: In Ihrem Buch analysieren Sie politische Unmenschlichkeiten entlang von Sprache. Wie sind Sie an dieses komplexe Thema herangegangen?

Gümüşay: Zu Beginn versuche ich ein Bewusstsein für die Architektur der Sprache zu schaffen. Sodass selbst Menschen mit gefestigten politischen Überzeugungen anfangen können, dieses Sprachgebäude zu ertasten. So kann man begreifen und fühlen, dass und wie diese Architektur unsere Wahrnehmung prägt, formt und lenkt. Und dass bestimmte Worte und Perspektiven es gar nicht erst in dieses Gebäude schaffen. Die allermeisten Menschen sind sich der Strukturen der Sprache nicht bewusst. Wer gegen eine Norm stößt, also gegen eine Mauer dieser Struktur läuft, bekommt nach und nach ein Bewusstsein für sie. Doch wer in verschiedenen Hinsichten privilegiert ist, kann sich ein Leben lang durch diese Spracharchitektur bewegen, ohne je das Gefühl zu haben, geformt und geprägt zu werden. Aber Menschen, die als Sprechende in einer bestimmten Sprache nicht vorgesehen waren, laufen permanent gegen Mauern, gegen die Grenzen dieser Sprache. Wenn wir eine Vorstellung von unserem Sprachgebäude haben, können wir uns fragen, ob es unseren Idealen entspricht oder ob wir noch an Schrauben drehen müssen.

STANDARD: Architektur dient aber auch der Orientierung, oder?

Gümüşay: Es ist in Ordnung, die Welt in Kategorien zu fassen, wir brauchen sie, um uns durch die Welt zu navigieren. Kategorien werden dann zu einem Käfig, wenn man glaubt, dass mit einer Kategorisierung ein Mensch abschließend erklärt ist – und damit auch abschließend über eine ganze Gruppe ein Urteil getroffen wird. Ich war erst kürzlich in einem ehemaligen Völkerkundemuseum, wo die koloniale Vergangenheit kritisch reflektiert wurde. Sie veranschaulicht, wie über die koloniale Inspektion Menschen entmenschlicht wurden. Alles wurde gemessen: die Breite und Länge der Nase, der Abstand zwischen den Augen. Die Menschen wurden als Objekte betrachtet, die man erforschen und erklären kann. Dieser forschende, absolutistische und entwürdigende Blick setzt sich fort, wenn wir an Menschen mit der Haltung herangehen, wir könnten sie abschließend verstehen. Wir haben grobe Kategorien in unseren Köpfen und überlegen, in welche Kategorie passt dieser Mensch denn nun. Und wenn keine passt, müssen wir eine neue Kategorie entwickeln, sodass wir weiter in dieser urteilenden Haltung verharren können. Einer Haltung, die keinen Raum für die Komplexität, Vielschichtigkeit, den Wandel der Menschen und der Welt zulässt. Dabei würde kaum ein Mensch von sich sagen, dass er fertig ist, in seinem Menschwerden, im Lernen, in seinem Sein. Kann irgendjemand von sich selbst sagen, wer er oder sie abschließend ist?

STANDARD: Eine Konsequenz dieser Kategorisierung ist, wie Sie schreiben, etwa folgende: Wenn Sie als sichtbare Muslimin bei Rot über die Straße gehen, gehen mit Ihnen 1,9 Milliarden Muslime bei Rot über die Straße.

Gümüşay: Wir leben in einer Gesellschaft, in der in diesen Menschen oftmals keine Individuen gesehen werden, sondern stets Vertreter einer Eigenschaft, einer Kategorie, einer Religion, einer Menschenmasse. Das Sprechen über diese Strukturen und sie zu sehen ermöglicht es uns, einen anderen Umgang damit zu finden. Wer im Bewusstsein lebt, dass jeder persönliche Makel, jede Eigenheit auf alle anderen in der Kategorie abfärbt, der beginnt auf Eigenheiten, Makel, Ecken und Kanten zu verzichten – Dinge, die uns menschlich machen, zu Individuen. So steigen sie in einen Bus und sind gezwungen, erst einmal sichergehen zu müssen, dass niemand in ihnen eine Gefahr sieht, weil sie einer Kategorie zugeordnet werden, die vermeintlich Gefahr bedeutet. Oder wenn sie permanent widerlegen müssen, dass sie unterdrückt und unmündig seien, der Sprache nicht mächtig seien. Das formt Menschen, etwa wenn schon Kinder, die in irgendeiner Form von der Norm abweichen, völlig andere Fragen beantworten müssen als andere gleichaltrige Kinder. Warum hast du zwei Mütter? Wo kommen deine Eltern her? Wieso sieht deine Haut so aus? Warum feiert ihr nicht dieses Fest, sondern jenes? Es ist ein völlig anderes Wissen, das diese Kinder entwickeln müssen, um überhaupt als gleichwertige Menschen anerkannt zu werden. Wir sind gezwungen, diese Fragen sehr gut zu beantworten, weil sie am Ende darüber entscheiden, ob wir als ebenbürtige Menschen akzeptiert werden oder nicht.

STANDARD: Warum ist Rassismus stärker in die Mitte unserer Gesellschaft gerückt?

Gümüşay: Rassismus gab es ja schon immer auch in der Mitte der Gesellschaft. Nur ist er nun in seiner ungenierten, gehässigen und entmenschlichenden Offensichtlichkeit salonfähiger geworden. Es gibt viele Gründe dafür. Ein Faktor ist, dass es leicht ist, Menschen auf einer abstrakten Ebene zu hassen. Wenn wir nicht von Menschen als Menschen sprechen, sondern von Geflüchteten als "Flüchtlingswelle" und sie damit zu einer Naturkatastrophe degradieren, dann sprechen wir ihnen ihr individuelles Schicksal ab. Sobald wir in einer Sprache sprechen, die jeder Menschlichkeit beraubt ist, geben wir Menschen zum Abschuss frei. Denn damit sind sie nicht mehr ebenbürtig, sie sind nicht mehr wie wir. Ihre Träume, Hoffnungen, Ziele, Ängste – all das tritt in den Hintergrund, und wir sehen sie primär als Kategorie, als Zahlen, als abstraktes Gebilde, das in dieses Land eindringt. Auf so einer sprachlichen Ebene ist es einfach, Politik zu machen, es ist einfach, sich mit diesen Sprachbildern als Held zu inszenieren: Ich führe euch durch diese Katastrophe, ich beschütze euch. Diese entmenschlichte sprachliche Architektur ist die Grundlage dafür, dass man nicht mehr als Mensch erkannt wird. Genau deshalb ist es sehr wichtig, darauf zu schauen, wie wir miteinander und übereinander sprechen.

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STANDARD: In diesem Zusammenhang kritisieren Sie die sozialen Medien und auch ihre Nutzer und Nutzerinnen. Sie würden blind nach den Regeln der Internetplattformen spielen, ohne sie auch nur im Geringsten zu durchschauen.

Gümüşay: Soziale Plattformen haben jeweils Algorithmen, die ein bestimmtes Verhalten begünstigen oder zumindest belohnen. Stellen wir uns vor, wir sitzen in einem Restaurant, ein Mann kommt rein und beginnt zu pöbeln und irgendjemanden zu beschimpfen. Was würden wir tun? Wir würden vermutlich den Kopf schütteln, um zu zeigen, dass wir seinem Verhalten nicht zustimmen, vielleicht stehen wir auf und gehen sogar dazwischen, oder das Restaurantmanagement verweist ihn des Restaurants. Die pöbelnde Person würde sich entweder entschuldigen oder das Restaurant verlassen. Online aber führt unsere Empörung, unser Kopfschütteln, unsere Zurechtweisung letztlich dazu, dass diese Person immer mehr Augen auf sich zieht und so immer mehr Relevanz bekommt. Mit jeder Provokation, jeder Unmenschlichkeit, jeder Gehässigkeit steigt die Aufmerksamkeit, die sich akkumuliert, und am Ende wird dieser Pöbler zu einer relevanten Stimme. Das heißt, so holen wir uns Stimmen in unseren Diskurs, die sich über Gehässigkeit und Destruktivität profiliert haben – und die dominieren dann unseren Diskurs. Und wir, die wir für Grundrechte stehen, für ein kultiviertes Miteinander, wir fangen dann an, darauf zu reagieren, weil es so einfach ist.

STANDARD: Einfach? Inwiefern?

Gümüşay: Weil wir uns dann moralisch erhaben fühlen, wir können durch unsere Reaktionen noch einmal markieren, wer wir sind. Vielleicht steht auch das idealistische Ziel dahinter, dass bestimmte Aussagen nicht unkommentiert stehengelassen werden können. Das sind alles nachvollziehbare Motive. Doch wenn wir einen Schritt zurückgehen, zeigt sich: Haltung ist punktuell wichtig, aber wenn Haltung zu zeigen zu einem Dauerzustand wird, dann stagnieren wir als Gesellschaft. Dann ist unsere Aufgabe nur noch, zu verhindern, dass die Dinge schlimmer werden. Wir stagnieren, weil wir nur noch damit beschäftigt sind, den Status quo aufrechtzuerhalten, statt uns mit Visionen darüber zu befassen, wie wir leben wollen, in welche Richtung wir uns entwickeln wollen. Wir sind schon glücklich damit, wenn es nicht schlimmer wird. Das ist nicht genug.

STANDARD: Das heißt, eigene Ideen und Themen in die Diskussion werfen, anstatt nur zu reagieren?

Gümüşay: Genau, wir müssen Räume schaffen, in denen wir miteinander über unsere Visionen sprechen und zukunftsweisende Fragen stellen können, anstatt uns nur an Destruktivität und Provokationen abzuarbeiten. Zukunftsgewandte Diskussionen, die uns dabei helfen, gesellschaftliche Missstände und Herausforderungen gemeinsam zu lösen. Sodass diejenigen, die Hass verbreiten und entmenschlichende Politik betreiben, reagieren müssen. In Diskussionen, die nicht angstgetrieben sind, wird ihre Entmenschlichung nur begrenzt funktionieren, sie geben nicht mehr den Ton an – und ihre Destruktivität wird hoffentlich entlarvt. (Beate Hausbichler, 2.2.2020)