STANDARD: Warum haben wir nachts mehr Angst als tagsüber?

Klackl: Evolutionspsychologisch gesehen stellt die Nacht eine Gefahr dar. Die Dunkelheit erlaubt es anderen, sich zu verstecken, jemandem aufzulauern. Es sind weniger Leute unterwegs, die einem helfen könnten. Die Nacht ist also objektiv gesehen gefährlicher. Die Angst davor ist zum Teil gelernt, etwa wenn Kindern gesagt wird, dass sie bei Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein müssen. Möglicherweise gibt es auch eine genetische Verankerung, darüber gibt es aber meines Wissens keine genaueren Erkenntnisse.

In der Nacht fürchtet man sich schneller am Tage. Wir fragten, warum das so ist.
Foto: Newald

STANDARD: Die Angst im Dunkeln ist aber auch ein subjektives Gefühl, oder?

Klackl: Genau. Auch wenn ich nachts zu Hause und in Sicherheit bin, kann Angst aufkommen. Unser Gehirn versucht ständig, das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, vorherzusagen. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, wie viele unserer Wahrnehmungen von Erwartungen gesteuert sind. Wenn die visuelle Information in der Dunkelheit noisy, also unscharf, wird, kann man Kontraste und Objekte weniger gut erkennen, und das Gehirn muss sehr viel dazukonstruieren. Dann geht auch leichter die Fantasie mit uns durch. Das passiert auch bei auditiver Wahrnehmung: Wenn es ruhig ist, reagieren wir sehr sensitiv auf kleinste Geräusche und meinen, etwas oder jemanden gehört zu haben. Weil die Information von außen so diffus ist, versucht unser Gehirn, uns etwas vorzugaukeln.

STANDARD: Gerade kleine Kinder nehmen die Dunkelheit oft als sehr bedrohlich wahr.

Klackl: Diese Ängste sind Teil der normalen kindlichen Entwicklung. Gerade bei Kindern löst Dunkelheit Verunsicherung aus, und das regt die eigene Vorstellungskraft an.

STANDARD: Solche Ängste sind also unbegründet?

Klackl: In der Forschung unterscheiden wir zwischen Furcht und Angst. Furcht bedeutet, dass eine konkrete, begründete Gefahr für Gesundheit und Existenz besteht, zum Beispiel, wenn ein Hund auf mich zuläuft. Angst haben wir, wenn es bloß möglich ist, dass eine furchtauslösende Situation eintreten könnte. Das ist psychologisch gesehen ein fundamentaler Unterschied, der in der Alltagssprache nicht gemacht wird.

STANDARD: Was passiert mit dem Körper, wenn wir uns fürchten oder Angst haben? Welchen Zweck erfüllt Angst evolutionär gesehen?

Klackl: Angst erhält uns am Leben, indem sie uns von gefährlichen Situationen fernhält. Wenn Gefahr im Verzug ist, wird unsere Aufmerksamkeit fokussiert, wir erkennen Dinge schneller, sind vigilanter. Das ist mit einem erhöhtem Herzschlag verbunden, der Körper ist aktiviert. Das Gehirn wird mit mehr Sauerstoff versorgt, ebenso wie die Muskeln, für den Fall, dass man weglaufen muss. Das ist aber nicht immer der Fall: Man kann auch Angst haben ohne körperliche Aktivierung.

STANDARD: Es gibt ja auch das Phänomen der Angststarre – wie ist das einzuordnen?

Klackl: Es gibt zwei Arten von Reaktionen: einerseits das Einfrieren oder Freezing, etwa wenn etwas laut knallt und man automatisch stocksteif wird. Man kann das bei Tieren gut beobachten. Tiere stellen sich tot, um nicht gesehen zu werden, wenn sie von einer Gefahr überrascht werden. Erstarren ist eine Furchtreaktion, die beim Menschen weniger sichtbar ist. Wir leben eher in einer Angst- als in einer Furchtgesellschaft. Im Angstkontext passiert Verhaltensinhibition, das heißt, dass alle Pläne und Ziele, die man gerade verfolgt hat, unterbrochen werden, damit sich der Geist darauf konzentrieren kann, was jetzt wichtig sein könnte. Bei einer Angstreaktion laufen ganz andere neuronale Vorgängen im Hintergrund ab als bei einer Furchtreaktion.

Sozialpsychologe Johannes Klackl

STANDARD: Welche sind das?

Klackl: Bei der Furchtreaktion ist das sogenannte periaquäduktale Grau stark beteiligt. Es liegt im Hirnstamm, der auch die überlebenswichtigen Körperfunktionen wie die Atmung steuert. Wenn es hingegen um Angst geht, spielt der mediale frontale Kortex eine große Rolle. Er liegt hinter der Stirn in der medialen Wand zwischen den beiden Großhirnhälften. Dieser Bereich ist eigentlich für das Erkennen von Konflikten und Ungereimtheiten zuständig. Wir gehen bei unserer Forschungsarbeit davon aus, dass sämtliche Ängste die Folge eines Zielkonflikts sind. Wenn wir uns zum Beispiel blamieren und befürchten, negativ beurteilt zu werden, haben wir Angst, weil das Ziel, sozial akzeptiert zu werden, bedroht ist. Das lässt sich mit verschiedensten Ängsten durchspielen.

STANDARD: Warum fürchten wir uns vor manchen Dingen mehr als vor anderen?

Klackl: Die Reihenfolge der Dinge, vor denen wir Angst haben, ist objektiv nicht korrekt. Viele Menschen haben Angst vor Terrorismus – obwohl die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag zu sterben, sehr gering ist. Vor einem Herzinfarkt oder dem Klimawandel hat hingegen kaum einer wirklich Angst, obwohl das eigentlich viel gefährlicher ist.

STANDARD: Woran liegt das?

Klackl: Einen Terroranschlag kann man sich leichter vorstellen als den Klimawandel. Wir sind generell ganz schlecht darin, objektive Fakten über die Welt zu generieren und als Basis für unsere Entscheidungen und unser Verhalten zu verwenden. Deswegen ändert auch das Wissen um eine geringe Kriminalitätsrate oft nichts daran, dass Menschen in einer dunklen Gasse Angst vor einem Überfall haben. (Karin Krichmayr, 3.2.2020)