Robert Borgmann misstraut unseren (Theater-)Bildern von der Welt: "Man muss mit seiner Arbeit die Institution Theater infrage stellen."

Foto: Robert Newald

In Elfriede Jelineks neuem Stück Schwarzwasser wird nicht einfach die Causa Ibiza abgehandelt. Es zeigt eine Gemeinschaft toll Gewordener, die sich in Hetzer verwandeln. Der Rechtspopulismus wird als Virus verbreitet. Im Mittelpunkt: ein junger Gott, "schwer zu fassen, aber manchmal kommt er ja doch". Regisseur Robert Borgmann über die Krise des Sprechens im Theater und in der Öffentlichkeit.

STANDARD: Sie haben unlängst den Satz geschrieben: "Theater gibt es gar nicht, das Wort ist ein leerer Raum." Der Jelinek-Theatertext "Schwarzwasser" öffnet einen Leerraum: den des Sprechens. Wie füllt man ihn?

Borgmann: Da muss ich mit dem Ibiza-Video anfangen. Als ich es zum ersten Mal sah, hielt ich es für einen Scherz, einen Witz, einen Akt von Satire. Einen Fake. "Das kann doch niemand ernsthaft so gemeint haben – da kommt bestimmt noch eine Auflösung!"

STANDARD: Wirklichkeit wurde unterboten?

Borgmann: Durch die totale, ultimative Obszönität. Da ist man zuerst mit der Frage beschäftigt: Wenn das schon Theater ist, was kann ich als Bühnenkünstler dazu beitragen, dass sich das Geschehen nochmals auf eine neue Ebene überträgt? Worin liegt der Sinn einer solchen erweiterten Repräsentation? Es herrscht schon im Video formal die komplette Unklarheit. Ist das ein Big Brother-Video von 2001 oder 2002?

STANDARD: Es wirkt "dated"?

Borgmann: Man glaubt, in einer Retro-Veranstaltung herumzulaufen. In Berlin, wo ich herkomme, sieht im Moment alles wieder aus wie in den Neunzigern. Man glaubt sich in einer Zeitschleife gefangen, in der obendrein das Medium verwechselt wird.

STANDARD: Eine Art von Ignoranz?

Borgmann: Man sah sich, während die Arbeit am Jelinek-Stück schon begonnen hatte, die Donald-Trump-Pressekonferenz über die Tötung eines iranischen Militärs an. Und was tat Trump? Er redete, als wäre er mit seinen Kumpels in der Bar! Für die offensichtlich gewordene Obszönität der Wirklichkeit ist das Ibiza-Video ein Zeichen. An der Entstellung der Wirklichkeit kommt niemand mehr vorbei. Und es ist unmöglich, dabei nicht an Orbán, an den Brexit und Ähnliches zu denken.

STANDARD: Es gibt in der politischen Theorie den Begriff "Ochlokratie": die Pöbelherrschaft. Bezeichnet er die aktuelle Krise?

Borgmann: Man muss über die Krise des Darstellbaren reden. Was ist überhaupt abbildbar? Die leere Bühne gibt es doch gar nicht. Der "leere Raum", das ist eine hochgemute Erfindung, eine in ihrer trügerischen Klarheit apollinische Vorstellung. Ich suche auf dem Theater eher den dionysischen Aspekt. Da lockt mich Elfriede Jelinek mit ihrem Stück Schwarzwasser auf eine aussichtsreichere Fährte.

STANDARD: Indem sie Euripides "Bakchen" in "Schwarzwasser" hineinverwebt?

Borgmann: Indem sie die Infizierung des "Wir", der Gruppe, der Gemeinschaft behandelt. Sie zeigt die Infizierung der politischen Redeweisen. Das bewirkt, dass ich als Regisseur mit auf der Bühne stehe.

STANDARD: Was bedeutet das politisch?

Borgmann: Der Vorgang bezeichnet für mich die Auflösung des Integritätsbegriffs. Der hat seit 1945 gegolten, mit ihm hat auch noch Angela Merkel operiert. Integer zu sein meint die Bemühung, Denken und Handeln in Übereinstimmung zu bringen.

STANDARD: Wir müssen den mündigen Menschen und Staatsbürger verlorengeben?

Borgmann: Auf dem Theater hieß es bis vor kurzem: Ich gehe hinauf auf die Bühne und verwandle mich in jemand anderen. Dieser Mechanismus greift nicht mehr.

STANDARD: Zeigt das nicht auch Jelinek? Keine ihrer Figuren spricht authentisch, sondern wird von der Sprache gesprochen.

Borgmann: Wenn ich keine bestimmte Figur, keine bestimmte politische Haltung mehr repräsentiere, muss ich sie auf dem Theater erst recht nicht mehr einnehmen. Ich muss mich vielmehr fragen: Welche Bilder kann ich schaffen, welche Energien freisetzen, um die Annahme von Integrität aufrechtzuerhalten? Theater und Kunst besitzen die Fähigkeit zur Verwandlung. Sie können Zustände transponieren, wenigstens für eine gewisse Dauer. Im Zuge eines solchen Prozesses wird die Gemeinschaft von Darstellern und Zuschauern wirksam.

STANDARD: Darin besteht der heilige Kern des Theaters?

Borgmann: Das ist der Grund, warum ich Theater mache. Sonst könnte ich mich auch in mein Atelier zurückziehen und viel Geld mit irgendwelchen Bildern verdienen.

STANDARD: Sie hadern gelegentlich mit der Institution des Theaters?

Borgmann: Natürlich, ständig. Mit mir, mit dem Theater. Wer das nicht tut, kann gleich zu Hause bleiben. Dann kann man vielleicht ein guter Designer sein.

STANDARD: Die gibt es im Theater zuhauf.

Borgmann: Zu 95 Prozent. Man muss sich vorab fragen: Was liegt faktisch vor? In der Hierarchie, in der Struktur, in der Architektur des Theaters? In den Intendanzen, in den Verträgen? Alle diese Dinge haben mit Kunst erst einmal gar nichts zu tun. Aber sie sind konstitutiv für Machtverhältnisse.

STANDARD: Der an Ibiza Hauptbeteiligte tut, als wäre Ibiza nie geschehen. Oder wenigstens nicht unter seiner Mitwirkung.

Borgmann: Das verbindet den Stoff mit der Antike. H.-C. Strache sagt: Ich bin das Opfer. Das scheint insgesamt ein Modus Operandi in Österreich zu sein: Wir sind Opfer. Da lohnt die Beschäftigung mit dem antiken Opferbegriff, der hat mit Infizierung zu tun. Es gibt gewissermaßen ein Virus, das umgeht. Die "Opfer" nehmen die Droge gerne, weil sie entschuldet. Davon handeln die Bakchen des Euripides. Und darum bedient sich auch Jelinek in Schwarzwasser dieses Grundtextes unserer Zivilisation.

(INTERVIEW: Ronald Pohl, 1.2.2020)