"Verlassen Sie sofort das Hafengelände", faucht die Dame am Schalter der Port Reception im Warteraum des Hafengebäudes von Dover, "draußen können Sie mit jedem reden. Aber hier sind Sie dazu nicht berechtigt." Huch! So hatte man sich die Ankunft im Vereinigten Königreich am ersten Tag nach dem EU-Austritt nicht vorgestellt: "Journalist sind Sie? Ich darf nicht mit Ihnen sprechen."

Das saß. "Ja, wie früher Boris Johnson", eine solche Bemerkung erspart man sich besser, wenn man es mit britischem Sicherheitspersonal zu tun hat. Man weiß ja nie. Gemäß dem EU-Austrittsvertrag genießen EU-Bürger bis Ende 2020 ja weiterhin alle bisherigen Rechte, auch wenn das Vereinigte Königreich um Mitternacht zum Drittstaat geworden ist. Und wer weiß, was dem wankelmütigen Tory-Premierminister über Nacht eingefallen ist.

Einlaufen in Hafen von Dover.
Foto: Thomas Mayer

Unsichere Zukunft

Die größte Veränderung, die der Brexit den Menschen als Erstes gebracht hat, welche am Samstag mit der Fähre von Dunkerque, zu Deutsch Dünkirchen, von Frankreich nach England gefahren sind, hat mehr mit Psychologie als der Realität zu tun. "Man weiß nicht, wohin das führen wird", sagt eine Musikerin aus Wales, die mit ihrem Partner von einem Konzert nach Hause fährt. Der Brexit sei eine Frage der Identität, "wir werden wohl erst in zehn Jahren wissen, was das aus uns gemacht hat". Beim Überqueren der Grenze stellt sich das neue Gefühl schon heute unmittelbar ein: Man denkt sofort an Kontrolle und ob etwas verboten ist.

Dabei hat sich in der Realität nichts geändert an diesem Samstag, dem 1. Februar. "Es ist wenig los", meinte der französische Zollbeamte in Dünkirchen, "aber das ist normal". Es ist Samstag. Zahlreich seien im Fährverkehr nur die Lkws, die Waren auf die britische Inseln bringen, "wahrscheinlich weil es billiger ist" als der Huckepackzug durch den Eurotunnel. Der ist zwanzig Kilometer weiter bei Calais. Es dauert nur eine knappe halbe Stunde durch den "Chunnel", daher sei "dort viel los, dort fahren viel mehr Touristen als bei uns", erklärt der Zöllner.

2,5 Millionen Lkws (10.000 pro Tag) fahren jedes Jahr durch Dover.
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Alles wie gehabt beim Fernverkehr

Vor allem die Liebhaber der Meeresluft nehmen die "alte" Route mit der Schiffsfähre, zwei Stunden Fahrt, leichte Seekrankheit inklusive, wenn der Wind bläst wie am ersten Tag der britischen EU-Abtrennung. Über die Rampe sind circa 50 Pkws hochgefahren, aber deutlich mehr Lkws, die meisten mit Kennzeichen und Fahrern aus Staaten aus Osteuropa. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen ist schwierig. Nur wenige sprechen Englisch.

Vom Brexit merkt man nichts, "es läuft alles so wie vorgestern und wie morgen auch", erklärt ein Vertreter des Hafens von Dover. Diesen hat inzwischen eine überaus nette Polizistin darüber informiert, dass ein Medienvertreter sich im Hafengelände herumtreibe. Sie notierte die Telefonnummer.

Dover ist der wichtigste Umschlagplatz und Durchreiseort für Warentransporter im Binnenmarkt, die ihre Fracht auf der Straße vom Kontinent ins Vereinigte Königreich bringen – und umgekehrt. Auch eine rollende Produktionskette. 2,5 Millionen Lkws (10.000 pro Tag) fahren hier jedes Jahr "durch", mehr als zwei Millionen Pkws. 2018 wurden 9.000 Container umgeschlagen, 300.000 Tonnen an Waren. Die Handelsvolumina sind freilich sehr ungleich verteilt. Die Briten führen rund die Hälfte aller Exporte in EU-Staaten aus, die EU-27 nur zehn Prozent ihrer Waren nach Großbritannien.

Hinfiebern auf das Ende des Übergangs

Auch wenn der Hafenvertreter beteuert, dass bisher alles beim Alten geblieben ist, keinerlei Wartezeiten für die Passagiere entstünden, die Be- und Entladung der Schiffe wie am Schnürchen und wie seit Jahrzehnten funktioniere, herrscht doch Unklarheit, wie das nach Auslaufen der Brexit-Übergangsfrist weitergehen wird; Ob Johnson mit der EU ein Handelsabkommen abschließen wird, das weitgehend ungestörte Beziehungen erlaubt.

"Boris ist großartig. Er wird das meistern. Ich vertraue ihm total."
Foto: Thomas Mayer

Am Außendeck und an der Bar einer Fähre ist das im Moment ein beliebtes Thema, da muss man Mitreisende gar nicht lange fragen. "Ich bin sicher, dass sich durch den Brexit nicht viel ändern wird", sagt ein Möbelpacker aus London. Er ist mit seinem Kollegen "privat" rüber nach Frankreich gefahren, um dort Tabak zu kaufen. Statt 29 Pfund wie zu Hause koste ein Beutel dort nur zehn Euro, sagt er. Und dafür rentiert sich die Fahrt? Wenn man ein paar Dutzend Tabakbeutel "nur für den persönlichen Gebrauch" kaufte, ja. Die Fähre koste 50 Euro für jeden.

Beide Männer aus dem Transportgeschäft haben für den Brexit gestimmt. Warum? "Weil mit den EU-Freiheiten zu viele Migranten ins Land gekommen sind", sagt der eine. "Weil unsere Beiträge ins EU-Budget viel zu hoch waren. Das war kein Geschäft mehr", sagt der andere. Sie sehen sehr gelassen in die Zukunft, "die Europäer brauchen uns, wir haben gute Produkte, und unsere Dienste sind viel billiger". Man werde neue Handelsabkommen abschließen, aber das werde länger dauern, kein Problem, Johnson werde die Übergangsfrist verlängern.

"Zum Verzweifeln"

Ganz anders sehen das Francis, der Musiker, und seine Partnerin. Sie sind jung, unter 30, sind mit ihren Konzerten weit herumgekommen. Beide haben für den Verbleib des Königreichs in der EU gestimmt, finden den Brexit "zum Verzweifeln", man stehle den Jungen ihre Zukunft.

Das Musikerpaar findet den Brexit "zum Verzweifeln".
Foto: Thomas Mayer

Was die beiden am meisten fürchten? "Es wird vielleicht viel schwieriger, Konzertreisen zu machen", erklärt er. Bisher sei man einfach in andere EU-Länder gereist, ohne Hindernisse. "Aber im vergangenen Jahr hat ein Veranstalter uns darauf hingewiesen, dass es Probleme geben könnte, sollte es zu einem ungeregelten Brexit kommen. "Wir hätten dann an der Grenze die Instrumente deklarieren müssen, die CDs, die wir verkaufen, sogar vorab Steuern entrichten müssen", erzählt er. Logisch, dass es dann mühsamer würde, durch Europa zu reisen.

Das hat ein Deutscher aus Cuxhafen, der mit seinen beiden jugendlichen Töchtern ein verlängertes Wochenende in London verbringt, schon bei der Auffahrt zur Fähre in Dunkerque erläutert: "Wir sind viermal kontrolliert worden. Zweimal die Pässe, zweimal vom Zoll." Das hätten seine Kinder so noch nicht erlebt.

Strenge Kontrollen

Neu ist das nicht. Großbritannien war auch als EU-Mitglied nicht Mitglied im Schengenraum der offenen Grenzen. Sowohl in den Häfen wie auch beim Eurotunnel wird streng kontrolliert: aber weniger wegen geschmuggelter Waren als wegen Migranten, die von Frankreich oder Belgien aus illegal ins Königreich übersetzen wollen. Kofferraum öffnen, große Koffer öffnen, alles, was im Auto zugedeckt ist, herzeigen – das ist das normale Prozedere, vor und nach dem Brexit. "Es hat sich also eigentlich nichts geändert – noch", sagt ein britischer Zollbeamter in Dünkirchen.

Großbritannien ist gut angebunden.
Foto: Thomas Mayer

Zwei Mitarbeiter der Fährgesellschaft unterhalten sich. "Boris ist großartig. Er wird das meistern. Ich vertraue ihm total", sagt der eine, der den Brexit glühend befürwortet: "Es wird aufwärts gehen." Sein Kollege schüttelt den Kopf: "Zunächst wird es schlechter werden. Die Preise bei uns werden steigen, es werden weniger Leute aus Europa kommen." Anders gesagt: Er befürchtet rückläufige Passagierzahlen.

Für einen jungen Deutschen aus Hannover, der mit seiner Mutter die Fähre nach Dover nimmt, ist der erste Tag nach Brexit sogar der Tag eines deutsch-britischen Neuanfangs. Er übersiedelt gerade nach London, wo er für eine australische Bank im Bereich der Infrastrukturfinanzierung arbeiten wird. Ob er Sorge habe, dass er als EU-Bürger bald keine Arbeitsgenehmigung mehr haben könnte, wenn der Handelsvertrag EU/UK scheitere? "Nein", sagt er frohgemut, "ich gehe davon aus, dass mein Arbeitgeber dann für ein Arbeitsvisum sorgen wird". (Thomas Mayer aus Dover, 1.2.2020)