Sobald jemand einen Asylantrag in Österreich stellt, hat sie oder er formal Zugang zum österreichischen Gesundheitssystem. Dass dieses Recht in der Praxis aber nicht immer erfolgreich durchgesetzt werden kann, zeigt mein Forschungsprojekt "Health Needs of Refugees in Vienna, Austria. A Critical Policy Studies Perspective." Seit einem Jahr begleite ich Personen, die auf eine Entscheidung im Asylverfahren warten, auf ihren Wegen durch das Gesundheitssystem. Ich untersuche damit, inwiefern das Bekenntnis zu Solidarität unter allen Versicherten auch praktisch umgesetzt wird.

Psychische Belastung durch unsichere Lebensumstände

Am 30. November 2019 warteten in Österreich 27.408 Menschen auf eine Entscheidung in ihrem Asylverfahren. Mehr als 85 Prozent haben bereits eine negative Entscheidung vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhalten. Während dieses in erster Instanz innerhalb von sechs Monaten entscheiden muss, ist für das Verfahren in zweiter Instanz beim Bundesverwaltungsgericht keine zeitliche Frist festgelegt. In dieser oft jahrelangen Wartezeit haben Asylwerbende keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und leben meist mit Grundversorgung in Unterkünften.

Für meine Forschung spreche ich auch mit Menschen, die Geflüchtete unterstützen. Dabei erklärte mir eine Sozialarbeiterin in einem Interview Ende letzten Jahres, dass die Asylwerbenden ihrer Unterkunft oft unter der unsicheren rechtlichen Lage leiden: "Wenn es jetzt wieder so dunkel wird und die ganzen negativen Entscheidungen kommen, das merkt man dann im Haus an der Stimmung schon schnell, so die depressive Stimmung, sage ich mal. Dann ist es ja oft so, dass psychische Erkrankungen so Auf und Abs haben und jetzt wieder mehr sind."

Unsichere Lebensumstände belasten Asylwerbende psychisch, beeinträchtigen aber auch oft ihre physische Gesundheit. Schlafstörungen sind dabei häufige Probleme. Geflüchtete träumen nicht nur häufig von Gewaltepisoden aus ihrem Herkunftsland, sondern auch Erlebnisse in Österreich hindern sie an einem gesunden Schlaf.

Der junge Afghane Walid beschreibt mir, er wache alle zwei Stunden auf, aus Furcht, die Polizei klopfe an seine Tür. Er mache sich außerdem Sorgen um seine Zukunft und denke viel an seine Familie, die mittlerweile mehr schlecht als recht in Pakistan lebt. Vor allem möchte er nicht länger warten. Seine Situation in Österreich zermürbt ihn. Er sagt: "Vielleicht kann ich wegen Stress nicht schlafen. Ich habe das Interview auch nicht bekommen (Asylentscheidung in erster Instanz, Anm.). Die Wohnung hat auch damit zu tun. Seit fünf Jahren bin ich hier. Warte. Mir wurde immer nur gesagt 'Nein'. Ich höre nur 'Nein'. 'Ja' höre ich hier in Österreich nicht. Mir wird nur gesagt 'Nein', 'Nein', 'Nein'. (…) Früher war ich gesund und hatte keine Kopfschmerzen und keine Beinschmerzen. Das ist alles in Österreich gekommen. Ich habe in Österreich Schmerzen bekommen."

Die psychische Belastung schlägt sich auf den Körper nieder.
Foto: apa/dpa/Soeren Stache

Wenig Hilfe

Walid hat bereits aufgegeben, Schmerztabletten zu nehmen, denn sein Kopf hört davon dennoch nicht auf zu pochen. Seine Beinschmerzen hindern ihn daran, Sport zu machen. Es hilft nicht, dass er, um sein Zimmer zu erreichen, mehrere Stockwerke zu Fuß nehmen muss. Im Gegensatz zu vielen anderen Asylwerbenden lebt er aber in einem Einzelzimmer. Auch hat er seit Jahren einen der begehrten Plätze beim Verein Hemayat, der unter prekären finanziellen Rahmenbedingungen Kriegsüberlebende psychotherapeutisch behandelt. Dennoch hat er die beschriebenen Probleme.

Ich begleite ihn zu zwei Orthopäden. Diese stellen ihre Diagnose in nur wenigen Minuten und blicken dabei kaum von den Röntgenbildern oder ihrem Bildschirm auf. Beim Verlassen der Praxis schildert Walid verzweifelt, dass er keine der ihm von der Ärztin vorgeschlagenen Spritzen will. Diese hat er zuvor schon bekommen – und sie helfen nicht. Der dritte Orthopäde, den wir daraufhin besuchen, hält beim Blick auf die Befunde erst einmal inne. Er blickt zu Walid und sagt: "Sie sind ja viel zu jung für solche Knie- und Rückenprobleme. Was ist Ihnen passiert?" Der Arzt nimmt sich Zeit, um zuzuhören, und macht klar, dass die geschilderten Probleme oft mit psychischen Verletzungen aus der Vergangenheit zusammenhängen.

Umstände mitdenken

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wissen, dass Walids Fall kein Einzelschicksal ist. Generell schätzen die Asylwerbenden in meinem Forschungsprojekt das österreichische Gesundheitssystem und bringen ihm hohes Vertrauen entgegen. Darüber hinaus muss aber auch der soziale Kontext mitgedacht werden: Die Umstände, in denen Walid in Österreich als Asylwerber lebt, machen ihn und viele in ähnlichen Situationen krank. Um dies zu verändern, braucht es Rahmenbedingungen, in welchen nicht erst der dritte Orthopäde Zeit hat zuzuhören. Psychische Verletzungen sollten mitgedacht und Institutionen geschaffen werden, die es Asylwerbenden ermöglichen, nachts durchzuschlafen. Gesundheit ist etwas, das gelebt und erlebt wird. Wenn wir weiterhin wollen, dass das österreichische Gesundheitssystem auf Solidarität beruht, müssen wir für entsprechende Lebensumstände sorgen. (Wanda Spahl, 5.2.2020)