"Wir haben uns gedacht, schöner kann ein Abend doch nicht zu Ende gehen", sagte einer der vier Jugendlichen auf der Mauer – und zeigte auf den Horizont. Ich nickte: "Ja, schöner kann ein Tag nicht beginnen", antwortete ich – und sah vermutlich genauso grundlos-glücklich-belämmert ins Weite wie die vier übriggebliebenen Nachtvögel. Dann lachten wir alle – und wurden still. Weil der Moment, der Blick und der Ort keine Worte mehr brauchte.

Es war Samstagmorgen. Halb acht Uhr in der Früh. In Graz, oben am Schlossberg. Die Sonne war schon ein paar Finger breit über den Horizont geklettert.

Unten würde die Stadt jetzt langsam in die Gänge kommen – aber hier oben war davon noch nicht zu hören oder zu spüren. "Augenblicke, die man nicht kaufen kann," sagte ich. Die Kids nickten. Ich lief weiter.

Foto: thomas rottenberg

Aber fangen wir von vorne an. Rund eine Stunde früher. Da hatte ich kurz überlegt, mich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen: Wochenende. Ein langer Tag stand an – und laut Wetterbericht sollte er sonnig und warm werden. Um darüber, was sechzehn Grad Anfang Februar im "großen Bild" bedeuten, länger zu philosophieren, ist hier weder Ort noch Raum.

Außerdem war es dunkel – und das Thermometer zeigte ziemlich genau null Grad.

Trotzdem: Raus. Zwei Espressi. Schuhe an – und ab. Bei den ersten ungelenk-steifen Schritten knackten die noch gefrorenen Erdkrumen, die ein Waldarbeiterfahrzeug ein paar Tage zuvor aufgeworfen hatte. Aber zwischen den Bäumen blitzte schon die Morgensonne. Schwach und schüchtern, aber doch. Heuer zum ersten Mal.

Foto: thomas rottenberg

Der Leechwald liegt gleich hinter dem Haus. Ein wundernetter Spielplatz. Groß genug, um als richtiger Wald durchzugehen, aber auch klein genug, um nicht endlos nur zwischen Bäumen herumtigern zu müssen. Wegtechnisch gibt es hier auch alles: von gewalzt-geschottert-halbasphaltiert über komfortabel-gedankenlos betrabbare Forstwege bis zu verwurzelten und schmalen Singletrails, auf denen man doch konzentriert laufen sollte.

Beim Umknöcheln selbst ist es dem Sprunggelenk nämlich egal, ob man tief in der Pampa oder nahe einer Bimstation ist – dass das Heimhumpeln in letzterem Fall einfacher ist, ist eh klar. Nur: Sich erst gar nicht zu verletzen ist natürlich die beste Option.

Foto: thomas rottenberg

Was der Leechwald abgesehen davon, ein Wald in der Stadt zu sein, noch ist? Hügelig. Wenn man will, findet man hier sogar richtig steile oder schräg im Hang hängende Passagen.

Nicht lang, aber doch lang genug, um zwischendurch ein bisserl Trailgefühl in die Füße zu bekommen – und sich, als geeichter Flachlandläufer, in der Gruppe abzuschießen: Wer es gewohnt ist, gleich hinter dem Haus im Gelände bergauf zu rennen, läuft sich bergauf auch beim lockersten Lauf hier ganz anders ein als jemand, bei dem nicht auch noch der kürzeste Lauf ein paar Hundert Höhenmeter im Handgepäck mit dabei hat.

Foto: thomas rottenberg

Aber wenn man es richtig – also nicht zu schnell, schon gar nicht am Anfang – angeht, sind Hügel super. Dann machen sie richtig Spaß – und bringen auch konditionell viel. Erst recht, wenn man sie mit Tempowechselspielereien kombiniert. Im Plan für heute war das genau so definiert: Eineinviertel Stunden "intensives Fahrtenspiel im hügeligen Gelände" hatte Harald verschrieben: 15 Minuten locker einlaufen. Danach in den Grundtempolauf drei vierminütige flotte, vier einminütige schnelle und fünf 30-sekündige Auf-Anschlag-Intervalle einbauen. "Die Pausen sind immer so lang wie das Intervall davor", steht im Begleittext – allerdings meint der Coach mit "Pause" eher nicht, dass ich mich in die Hängematte legen soll. Aber wenn die schon mal da ist ...

Foto: thomas rottenberg

Hängematten gehören seit ein paar Jahren zum Standardmobiliar des öffentlichen Raumes. Nicht nur in Graz – überall. Aber so wie überall verkaufen die Stadtväter und -mütter derlei ihren Bürgerinnen und Bürgern gerne als regionale Neuerfindung des Rades.

Obwohl das gar nicht nötig wäre: Schließlich hat jede Region, jede Stadt, jedes Viertel auch genug unverwechselbar-einzigartiges Schönes. Auf der (aus meiner Sicht) anderen Seite des Leechwaldes etwa den Hilmteich mit seinem Gärtnerei-Beinahe-Schlösschen. Ein properer kleiner Park – in einer mehr als properen Gegend.

Foto: thomas rottenberg

Wobei ich die eben gerade erst kennenlerne. Das geht laufend natürlich ganz hervorragend – auch weil man da in der Regel nirgendwo spezifisch hinmuss, weil ja der Weg das Ziel ist. Das macht den Unterschied aus: Graz ist eine super Fahrradstadt.

Nicht nur wegen des Wegenetzes und der Rücksicht der meisten Autofahrer, sondern auch und vor allem, weil sich auch hiesige Polizisten an den Kopf greifen, wenn man ihnen vom Sinnlos-Halali der Wiener Exekutive auf Radfahrer erzählt.

Foto: thomas rottenberg

Aber egal ob zu Fuß, auf dem Rad oder in den Öffis (oder – was auch immer Menschen im innerstädtischen Nahverkehr dazu motiviert – allein im Auto): Da will ich von A nach B kommen – und das möglichst zügig und direkt.

Dabei lernt man eine Stadt dann zwar auch kennen und verstehen, aber eben ganz anders, als wenn man sich einfach treiben lässt. Gerne mit ein paar Vorgaben zu Zeit, Ziel oder Laufprogramm – aber eben doch "planlos": Man sieht und schaut anders – und erlebt und entdeckt.

Foto: thomas rottenberg

Und durch die Augen des (noch) Fremden lernen dann auch die Locals wieder sehen: An dem von Caritas und Katholischer Hochschulgemeinde gemeinsam initiierten Projekt "Paradise L." gehen oder fahren die meisten Leute längst achtlos vorbei. Kein Wunder, schließlich wird dieser Ort schon fast zwei Jahre als Kunst-, aber auch sozialer Raum genutzt: Man weiß, dass es ihn gibt – und aus.

Ich bin da in Wien nicht anders. Aber wenn mir dann jemand von auswärts erzählt, was er oder sie da entdeckt hat, lerne auch ich oft, wieder hinzuschauen. Dem Selbstverständlich-Alltäglichen einen oder zwei Sekunden oder Gedanken zu gönnen.

Foto: thomas rottenberg

Und manchmal entdeckt der "Zuwanderer" dann sogar Dinge, die dem "Ureinwohner" bisher völlig verborgen blieben. Eben weil er nicht schaut: Fragen Sie einen Wiener, was er über Ruprechtskirche oder den Kornhäuslturm weiß – und dann einen an der Stadt tatsächlich interessierten Touristen.

Oder lassen Sie sich Nebenbei-Schnappschüsse von Besuchern zeigen – da wird vieles dabei sein, was Ihnen noch nie aufgefallen ist – obwohl Sie regelmäßig daran vorbeikommen.

Das gilt überall: Die meisten "meiner" Grazer haben dieses Graffiti noch nie gesehen – obwohl sie öfters durch den Stadtpark kommen.

Foto: thomas rottenberg

Wobei sich da natürlich schon auch die Frage stellt, ob und wie man durch den Alltag käme, wenn man ständig und für alles die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung aufbringen müsste: Die meisten "Tags" sind weniger Kunst als Vandalismus – und es ist auch das gute Recht jedes Beobachters und jeder Entdeckerin, das, was nicht gefällt, auch abzulehnen – und das auch zu sagen.

Denn auch und gerade im Kunstumfeld gilt das "Kaisers neue Kleider"-Prinzip: Niemand will der Erste sein, der Schrott auch Schrott nennt – er könnte ja von wem Berühmten sein.

Foto: thomas rottenberg

Auf dem Weg auf den Schlossberg war ich dann über etwas anderes recht froh: Dort, wo es wirklich steil war, hatte ich im Trainingsplan dann eine lockere Passage stehen.

Ich schnaufte zwar ordentlich, als ich bei den vier Nachtvögeln ankam, die da oben dem Tag beim Beginnen zusahen, hatte aber doch genug Luft und Kopf, um die Schönheit des Augenblickes genießen zu können.

Foto: thomas rottenberg

Das ist wichtig. Für mich jedenfalls. Läufe, bei denen einem Laktat und Anstrengung bis unter die Schädeldecke stehen und man außer den nächsten paar Metern Laufstrecke nichts sieht und außer dem eigenen Herzen nichts mehr hört, gibt es auch. Manchmal ist das gut, wichtig und richtig so.

Foto: thomas rottenberg

Aber in neun von zehn Fällen würde ich dann das für mich Wichtigste beim Laufen versäumen: Momente, die man nicht kaufen kann. Augenblicke wie diesen.

Etwa das Gefühl, wenn man über einer Stadt zum ersten Mal der Sonne beim Aufgehen zusieht – und man spürt, dass man angekommen ist. (Thomas Rottenberg, 5.2.2020)

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