Im Gastkommentar sieht der Rechtswissenschafter Peter Hilpold Reformbedarf in der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Zuvor forderte Stefan Brocza mehr Transparenz
bei der Nachbesetzung vakanter Posten.

Stefan Brocza hat in seinem Gastkommentar "Grüner Postenschacher" eine wichtige Diskussion angestoßen, sowohl was den Modus der Bestellung der Verfassungsrichterinnen und -richter anbelangt als auch weit darüber hinaus.

Beim Verfassungsgerichtshof stehen Entscheidungen an. Zum einen die Besetzung der Spitze, die, nachdem Brigitte Bierlein Kanzlerin wurde, interimistisch besetzt ist, sowie eines Postens für einen Richter oder eine Richterin.
Foto: APA / Hans Punz

Gleich vorab: Wenn nun eine "grüne" Juristin den frei gewordenen Posten einer Verfassungsrichterin erhalten sollte, so ist dies nicht nur legitim, sondern sinnvoll im Kontext der gegenwärtig geltenden Gesamtregelung zur Bestellung der Mitglieder des VfGH. Im Kontext der gegenwärtig geltenden Gesamtregelung: Nicht ein zu erwartendes Naheverhältnis zu den Grünen (mag dieses jetzt auch bei einer überraschend großen Zahl an Kandidatinnen "entdeckt" werden) ist zu kritisieren, sondern wohl eher der Bestellmodus an sich, der international ein eigenartiges Licht auf Österreich wirft.

Politischer Konnex

Der in Art. 147 B-VG geregelte, auf den ersten Blick durchaus komplex scheinende Bestellmodus kann in der Verfassungsrealität auf folgende Essenz reduziert werden: Praktisch entscheiden die politischen Kräfte der Regierungsmehrheit über die Bestellung der Verfassungsrichterinnen und -richter. Zuerst haben sich ÖVP und SPÖ über die "Konventionalregel" diese Positionen aufgeteilt, und nachdem sich die politischen Kräfteverhältnisse verschoben haben, ist auch Platz geworden für Richterinnen und Richter mit FPÖ-Nähe und nun eben auch für Kandidatinnen und Kandidaten der Grünen.

Die Zusammensetzung des VfGH spiegelt eben die jeweiligen politischen Kräfteverhältnisse im Lande wider, ließe sich argumentieren. Gerade bei einer Institution von derartiger Machtfülle wäre es aber nun wohl an der Zeit, an einen verfeinerten Bestellmodus zu denken, der zumindest ansatzweise diesen schon von der Optik her allzu kruden politischen Konnex zu überwinden hilft. Ein Blick über die Grenzen kann helfen: In Italien werden die 15 Richter des Verfassungsgerichtshofs je zu einem Drittel vom Präsidenten, vom Parlament in gemeinsamer Sitzung und von der Gerichtsbarkeit gewählt. Auch ein solcher Mechanismus führt nicht zu einer völligen Entpolitisierung der Zusammensetzung und der Arbeit dieses Gerichts, aber die Verbindungslinien zwischen Politik und Verfassungsrechtsprechung werden diffuser, unschärfer, weniger plan- und steuerbar.

Weiterreichender Reformbedarf

Der Reformbedarf in der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit reicht aber weit über die Frage der Bestellung der Richterinnen und Richter hinaus: Da wäre einmal die Frage der Haupt- beziehungsweise Nebenberuflichkeit dieser Tätigkeit anzugehen. Schon angesichts der kapazitätsmäßigen Belastung muss wohl eine ausschließliche Ausübung dieser Tätigkeit verlangt werden. An der finanziellen Abgeltung sollte dies nicht scheitern, da diese schon jetzt im internationalen Spitzenfeld liegt. Der Ausschluss von Nebenbeschäftigungen würde zudem auch Befangenheitsproblemen entgegenwirken.

Eng damit zusammen hängt die Bestelldauer: Eine Abkehr von der Bestellung auf Lebenszeit – konkret bis zum 70. Lebensjahr – wird in der österreichischen Kommentarliteratur zum Teil als undenkbar angesehen. Das muss verwundern, stellt doch eine solche Bestelldauer international eher die Ausnahme dar (in Europa neben Österreich noch in Belgien, Luxemburg und Malta). Die Angst, dass dies zu Abhängigkeiten bei der Entscheidungsfindung führen würde, ist – wie die Erfahrungen in Deutschland zeigen – unbegründet beziehungsweise wohl zum Teil auch vorgeschoben.

Ausweitung der Zuständigkeit

Gleichzeitig ist auch eine Ausweitung der Zuständigkeit des VfGH von ganz besonderer Dringlichkeit: Dass es in Österreich keine Urteilsbeschwerde gegen letztinstanzliche Entscheidungen der ordentlichen Gerichte beziehungsweise der Verwaltungsgerichte gibt, ist ein wahres Unding und führt zu ernsthaften Rechtsschutzdefiziten, die in einem modernen Rechtsstaat – noch dazu einem Mitglied der EU – einfach nicht mehr tolerierbar sind.

Die Trägheit des Überlieferten ist in Österreich ein altbekanntes kulturelles Problem, das im vorliegenden Kontext längst überfälligen Reformen bislang entgegenstand. Wenn nun das bislang Unvorstellbare, dass eine grüne Juristin in den Hermelinmantel gekleidet wird, Wirklichkeit wird, dann sollte nach Überwindung des ersten Kulturschocks und der schlimmsten Weltuntergangsängste vielleicht darüber nachgedacht werden, ob nicht auch weitergehende, längst überfällige Schritte denkbar werden könnten. (Peter Hilpold, 5.2.2020)