Bereits im Dezember war den chinesischen Behörden bekannt, dass das Coronavirus zwischenmenschlich übertragen wird. Dass Peking dies erst nach Wochen zugegeben hat, hat auch das Vertrauen der eigenen Bevölkerung erschüttert, so García-Herrero.

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In fließendem Französisch sprach die Spanierin Alicia García-Herrero auf dem Podium im Pariser Louvre über das Coronavirus, ehe sie dem STANDARD ein Interview gab – auf Deutsch. Die Chefökonomin der Investmentbank Natixis, die zudem Ökonomieprofessorin in Hongkong ist, sieht in der Corona-Epidemie eine Vertrauenskrise der chinesischen Regierung. Die USA hingegen würden von der Lungenkrankheit im Reich der Mitte profitieren.

STANDARD: Warum nennen Sie die Corona-Krise eine Vertrauenskrise?

García-Herrero: Wenn es keine wäre, würden sich die chinesischen Behörden anders verhalten. Ersten sind die Maßnahmen nicht gut für die Wirtschaftslage. Und rund 50 Millionen Menschen einfach abzuschotten ist unglaublich. Was sagt uns das? Entweder ist die Situation viel schlimmer; als man zugibt, oder sie haben Angst davor, dass sie viel schlimmer wird. Oder die Regierung hat Angst vor dem Verlust des Vertrauens der Chinesen.

STANDARD: Sie halten das für gefährlich.

García-Herrero: Ja. Ein Beispiel: Meine Studenten in Hongkong haben zum Teil bereits Mitte Jänner gesagt, dass sie nicht zurück nach China wollen. Die Menschen wussten über das Coronavirus Bescheid, aber von offizieller Seite hieß es, es würde nicht von Mensch zu Mensch übertragen. Aber die Leute haben gesehen, dass etwas nicht stimmt, die Information passte mit der riesigen Zahl an Infizierten nicht zusammen. Schon damals bei Sars waren die Ziffern unglaubwürdig. Fast 700 Leute sind an Sars gestorben, die Hälfte davon in Hongkong. Aber Hongkong ist so klein im Vergleich, die Leute wussten, dass es insgesamt weit mehr sein müssen. Das heißt: Die Chinesen vertrauen ihrer Regierung, dass sie etwa die chinesischen Interessen gegenüber Trump vertritt. Aber sie vertrauen nicht darauf, dass Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung zu den obersten Prioritäten der Regierung gehören.

Alicia García-Herrero sieht Parallelen zwischen der Corona-Krise und der Atomkatastrophe von Tschernobyl. In beiden Fällen handle es sich um Vertrauenskrisen der Regierung, so die Ökonomin.
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STANDARD: Aber Peking reagiert doch, zwei neue Krankenhäuser wurden eigens hochgezogen.

García-Herrero: Aber die Chinesen macht das misstrauisch: Warum gab es nicht genug Krankenhäuser? Wo sind die Ärzte? Die Leute verstehen das, man konnte sogar in den chinesischen Medien lesen, dass es nicht genügend Apparate zum Testen von Verdachtsfällen gibt. China vermittelt uns den Eindruck, alles sei gut: Man baut Krankenhäuser, es gibt eine App, wo Verdachtsfälle registriert werden. Aber gleichzeitig können nur rund hundert Verdachtsfälle pro Tag getestet werden, Menschen mit Symptomen müssen zwei Tage und mehr warten, bis sie drankommen. Das ist verrückt, natürlich macht das den Menschen Angst.

STANDARD: Erklärt das auch, weshalb die Menschen in Metropolen wie Peking und Schanghai zu Hause bleiben, obwohl sich die Corona-Krise großteils auf Hubei konzentriert?

García-Herrero: Genau, die Menschen sind verunsichert und haben Angst, dass sie als Nächste betroffen sind. Dass die Menschen auch dort Angst haben, wo es viel weniger Infizierte gibt, belegt, dass es sich um eine Vertrauenskrise handelt. Deswegen leidet auch die Wirtschaft im ganzen Land, die Leute bleiben zu Hause aus Angst, sich zu infizieren.

STANDARD: Wird die Vertrauenskrise aufhören, wenn das Coronavirus besiegt ist?

García-Herrero: Eine Vertrauenskrise ist sehr schwierig zu lösen. Auch wenn die chinesischen Behörden Entwarnung geben, wird die Krise weitergehen. Es wird dauern, bis die Menschen glauben, dass die Gefahr wirklich vorbei ist. Corona ist wie Tschernobyl, die Atomkatastrophe war auch eine Krise des Vertrauens in die Führung der Sowjetunion. Am Anfang denken die Menschen, dass eine solche Katastrophe jedem passieren kann. Aber mit der Zeit merken sie, dass es immer wieder in China passiert. Und dann fragen sie sich natürlich, warum das so ist. Das Misstrauen sitzt tief. Warum haben zwei Millionen Menschen Wuhan verlassen, bevor die Stadt unter Quarantäne gestellt wurde? Wussten sie etwas, das dem Rest des Landes vorenthalten wurde? Die Regierung wusste bereits im Dezember, dass das Coronavirus von Mensch zu Mensch übertragen wird.

Die kommunistische Partei von Xi Jinping wird es schwer haben, das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen, glaubt García-Herrero.
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STANDARD: Was wird China tun?

García-Herrero: Sie werden jemanden verantwortlich machen.

STANDARD: Lokale Behörden?

García-Herrero: Genau. Jeder weiß, dass Peking zu spät reagiert hat. Jetzt muss jemand dafür verantwortlich gemacht werden. Man wird auf jemanden zeigen und Änderungen versprechen. Ich kann mir vorstellen, dass Peking Corona zum Anlass nimmt, die Macht weiter zu zentralisieren. Das ist Nummer eins. Nummer zwei: Peking wird die wirtschaftlichen Schäden so klein wie möglich halten, die Zentralbank injiziert bereits unheimlich viel Geld in die Wirtschaft. Fluglinien werden Subventionen bekommen und so weiter. Aber das primäre Problem ist nicht die Wirtschaft, sondern die Vertrauenskrise. Und Zentralisierung wird die nicht lösen. Es ist eben wie Tschernobyl. Es wird nicht morgen oder übermorgen zu einer echten Krise der Partei kommen. Aber in den Köpfen der Chinesen bleibt dauerhaft hängen, dass etwas nicht passt.

STANDARD: Wechseln wir von der Innenperspektive zur Außenwahrnehmung. Was bedeutet die Vertrauenskrise für Chinas Image in der Region?

García-Herrero: Nehmen Sie die Philippinen: Präsident Duterte ist einer der engsten Verbündeten Pekings in der Region. Manche sagen sogar, Duterte sei Präsident von Chinas Gnaden. Aber die Philippinen lassen niemanden aus China mehr einreisen. Auch in Hongkong gibt es viele tausend Philippiner, die nicht zurück können. Duterte traut sich nicht, die Situation zu ignorieren. Er vertraut China offenbar nicht. Es geht für ihn auch um die Wiederwahl, deshalb kann er sich nicht leisten, die Situation zu ignorieren. Denn er weiß, dass sein Land im Ernstfall mit einem Massenausbruch des Coronavirus nicht fertig würde, dafür fehlt die medizinische Infrastruktur. Bei uns in Europa ist das natürlich anders, aber viele asiatische Länder haben sehr große Angst davor, dass die Epidemie überschwappt.

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Dass selbst der philippinische Präsident Rodrigo Duterte den Chinesen misstraut, wertet García-Herrero als Indiz für eine tiefe Vertrauenskrise der chinesischen Regierung.
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STANDARD: Was bedeutet die Corona-Krise für die Unabhängigkeitsbewegung in Hongkong?

García-Herrero: Hongkong ist strategisch sehr wichtig. Vier Fünftel der Einwohner Hongkongs sind dafür, die Grenze zu China zu schließen. Aber Peking kann das unmöglich zulassen. Die Regierung glaubt – und liegt wohl richtig –, dass die ganze Welt dem Beispiel Hongkongs folgen würde. Denn geschlossene Grenzen würden für die Stadt auch riesige wirtschaftliche Einbußen bedeuten. Wenn Hongkong die Sicherheit der Bevölkerung zu diesen Kosten priorisiert, signalisiert das, dass etwas im Argen ist. Und die Welt würde Hongkong glauben, weil die Stadt so nahe am Geschehen ist. Es gibt zwei Fraktionen in Hongkong: Die Gelben, die die Proteste unterstützen, und die Blauen, die zu Peking halten. Wegen Corona sind sich beide darin einig, die Grenzen zu China zu schließen.

STANDARD: Was bedeutet es für die Weltwirtschaft, wenn sich immer mehr Länder abschotten?

García-Herrero: Dass die USA der große Gewinner sind. Was Trump nicht geschafft hat, hat das Coronavirus erledigt: Wenn das weltweite Vertrauen in China sinkt, werden die USA ein stärkerer Player. Im Handelskonflikt mit China ist Corona für Washington ein viel größerer Gewinn als der jüngste Deal mit Peking. (Aloysius Widmann, 5.2.2020)