Im April 2019 brachte mich eine Lesereise in den Iran, mehrere Auftritte vor einem großteils studentischen Publikum. Einige Tage verbrachte ich im Österreichischen Kulturforum Teheran. In der Küche kam ich mit dem Hausmeister ins Gespräch, einem ehemaligen Profiboxer, der erfolgreich in den USA und Kanada gekämpft hatte.

Er war in sein Geburtsland zurückgekehrt, wenige Jahre fehlten noch bis zur Pension. Im Heizkeller hatte er ein provisorisches Gym eingerichtet: Sandsack, Handschuhe, Springschnur für nächtliche Trainingseinheiten. Nach wie vor besaß er eine erstaunliche Schnelligkeit. In einem kurzen Sparring kam er ähnlich wie Tyson geduckt und pendelnd auf mich zu, schlug wuchtige Haken punktgenau auf Schläfe, Leber oder Milz.

Shatila, Beirut, 2016.
Foto: Leonhard Pill

Er habe immer versucht, den Atem seines Kontrahenten zu kapern, erklärte er mir. Meist benötigte er bis zur dritten Runde, um die Rhythmen zu synchronisieren. Er war überzeugt, ab dann nicht nur zu atmen wie sein Gegner, sondern auch zu denken wie dieser: Wollte er eine Rechte ausführen, wusste er, dass der andere dasselbe bezweckte, und konnte die Attacke auskontern. Über den Atem gelangte er in den Kopf seines Gegenübers, und er sprach mit großer Achtung von jenen, die diese Taktik durchschaut und ihrerseits ausgehebelt hatten.

Wie viele Iraner und Iranerinnen beschäftigte ihn die Frage, wie sich der Konflikt mit den USA entwickeln würde. Die Sanktionen zeitigten Wirkung: Währungsverfall, sinkende Gehälter, Medikamente für Therapien gegen Krebs oder AIDS konnten offiziell nicht mehr eingeführt werden. Syrien war ein bestimmendes Thema, der dortige Krieg ist ein zusätzlicher Schauplatz für die Feindseligkeiten zwischen dem Iran und den USA. Wir hängen alle mit drin, sagte der Boxer, in Syrien wird die Zukunft entschieden.

Vor dem Abflug in den Iran hatte ich die Syrerin Samira auf einen Kaffee getroffen. Sie erzählte, wie sie bei Kriegsausbruch mit ihrer Mutter und den Schwestern in den Libanon geflohen und durch ein Stipendien-Programm nach Österreich gelangt war. Ich berichtete von meinen Aufenthalten in Syrien 2007 und vor allem 2011, kurz vor Beginn der Demonstrationen gegen Assad. Damals wurde in jeder Hotellobby und jedem Restaurant über die Geschehnisse in Ägypten gesprochen. Die Wucht des Arabischen Frühlings, der in Tunesien begonnen hatte, jagte Mubarak aus dem Amt.

Tourist oder Journalist?

Man verfolgte die Sondersendungen und erklärte mir gegenüber, dass der eigene Präsident im Vergleich zu den nordafrikanischen Despoten weitaus offener sei, es keinen Grund für Proteste gebe. Mit aller Naivität eines 23-jährigen Backpackers glaubte ich diesen Beteuerungen. Ich verstand nicht, dass man sich nicht aus bloßer Neugier um die TV-Geräte versammelte, sondern in diesem Moment der erhoffte Sturz des eigenen Regimes tatsächlich greifbar wurde. Ich erzählte Samira von der Erschütterung, die mich überkam, las ich von Orten, in denen ich gewesen war und manchmal Freundschaften geschlossen hatte.

Hisbollah-Herzland, unterwegs nach Mleeta.
Foto: Leonhard Pill

Palmyra etwa, oder Deir-es-Zur und Raqqa, nunmehr zerstörte Städte. Assad war weiterhin an der Macht, es hatte sich eine Art grausame Stabilität etabliert. Ich fantasierte, wie es wäre, wieder hinzufahren. An sich möglich, sagte Samira. Man könne vom Libanon per Bus nach Damaskus gelangen. Ich wurde die Idee nicht mehr los: Via Beirut nach Syrien reisen, ins Assad-Gebiet, um Eindrücke des brüchigen, falschen Friedens zu sammeln – das, dachte ich mir, könnte als Reportage taugen.

Im Grenzgebiet zu Syrien und Israel hat sich ein Großteil der Flüchtlinge angesiedelt. Von Baalbek bis nach Al-Qu lagen abseits der Straße ihre provisorischen Behausungen.

In der syrischen Botschaft unweit des Akademietheaters schien es, als wäre der Krieg nur ein Hirngespinst. Alles nahm den gewöhnlichen konsularischen Verlauf. Der Beamte fragte, ob ich Tourist sei oder Journalist. Je nachdem werde mir der entsprechende Antrag per Mail geschickt. Als Journalist koste es 600 Dollar pro Tag inklusive Personenschutz, einer offiziell genehmigten Reiseroute folgend. Eine ähnliche Tour habe kürzlich eine Delegation der AfD absolviert, zum Beweis, das Syrien sicher für die Rückführung von Geflohenen sei. Als Tourist brauche es eine Referenz, die Einladung durch eine Privatperson oder Organisation. Innerhalb dreier Monate werde das Anliegen geprüft, 100 Euro Gebühr.

Schwarm von Geiern

Abgesehen davon, dass ich meinen Reisepass nicht so lange hinterlegen konnte, stellte die Referenz das wesentliche Problem dar. Ich kontaktierte mehrere NGOs, legte meine größte Hoffnung in das SOS Kinderdorf, der einzigen österreichischen Hilfsorganisation, die noch in Syrien tätig war. Doch gleichgültig, welcher Ansatz oder auf welche Empfehlung hin, wie lange ich auch in Warteschleifen ausharrte, Antwort erhielt ich keine. Es hätte mir früher einleuchten müssen. Ich war nicht der Erste, der anfragte.

Für all die Project-Managers, Communication-Officers und Media-Assistants war ich ein beliebiger Name in der elendslangen Abfolge an Journalisten und Künstlern, an Autoren und Filmemachern, die sich mit dem Konflikt beschäftigen wollten, die unwichtigsten Elemente im Chaos, das der Krieg ausgelöst hatte, und der Eindruck zwang sich mir auf, Teil eines Schwarms von Geiern zu sein, der aus dem Kadaver der syrischen Misere noch das kleinste verwertbare Stück reißen wollte.

Der Plan wurde geändert. Die Reportage sollte sich auf den Libanon konzentrieren. Rund die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist seit 2011 aus ihrer Heimat vertrieben worden. Im Libanon befinden sich circa 600.000 registrierte Flüchtlinge, die Dunkelziffer liegt bei einer Million – in einem Land, das selbst nur rund sechs Millionen Einwohner zählt. Die Vertriebenen können nicht mehr zurück nach Syrien, aber auch nicht woanders hin.

Traumhaft traurige Musik

Man müsste sich um etwa 400 Dollar einen Reisepass fälschen lassen. Damit könnte man nach Erbil fliegen, ins irakische Kurdistan, und von dort mithilfe eines Schleppers weiter in die Türkei und per Boot nach Lesbos gelangen. Im Libanon sind jene gestrandet, die nicht über das dafür nötige Budget verfügen. Entweder hatten sie nie Geld oder alle finanziellen Ressourcen sind nach acht Jahren Krieg längst aufgebraucht.

Anfang Juni landeten der Fotograf Leonhard Pill und ich in Beirut. Knapp drei Wochen standen zur Verfügung. Am Flughafen erwartete uns Rami, Fahrer und Fixer in einem. Er hatte in Boston Jazzgitarre und klassische Musik studiert, danach in Texas als Übersetzer gearbeitet: Many arabs there, because of the oil. Wir rasten übern Highway, vorbei an dunklen Fassaden. Where's oil, there's Arabs, sagt Rami, Arabs and Americans.

Er schwärmte von Gustav Mahler. Ob wir die "Kindertotenlieder" kennen? Was für traumhafte, traurige Musik, wer außer Mahler hätte sie komponieren können, mit diesem verrückten, getriebenen Leben. Mahler habe panische Angst vor dem Tod gehabt, sagte Rami, und sich vom Fluch Beethovens verfolgt geglaubt, demzufolge er nach Vollendung der 9. Sinfonie sterben werde, ein Schicksal, das auch Brahms ereilt hatte.

Flüchtlingslager am Rande Zahlés.
Foto: Leonhard Pill

Als wir zu unserer Unterkunft fuhren, waren auf den Straßen einzig Soldaten zu sehen. Sie patrouillierten an Kreuzungen oder bewachten Kasernen, lehnten an Geschützfahrzeugen. Viel Armee, bemerkte ich. Rami winkte ab. Das Militär ist nicht wichtig, sagt er, sondern die Hisbollah. Sie sei der wahre Staat. Mächtig, da vom Iran unterstützt. Viele wünschten sich einen Krieg zwischen den USA und dem Iran, da das ein Ende der Hisbollah bedeute. In Erfüllung ihrer Allianz würde die schiitische Miliz zur iranischen Unterstützung Israel attackieren, doch egal, wie erfahren ihre Kämpfer sein mochten, die Israelis verfügten über genug Feuerkraft, um den ganzen Libanon niederzubrennen.

Sozialer als die Regierung

Andererseits biete die Hisbollah ein kostenloses Gesundheitssystem, sie betreibe Krankenhäuser, Schulen und Apotheken, sie sei sozialer als die eigentliche Regierung, so Rami. Einst eine paramilitärische Untergrundbewegung im Widerstand gegen den israelischen Einmarsch, war daraus eine Partei samt militärischem Flügel gewachsen. Als Generalsekretär und Oberbefehlshaber wirkt seit 1992 Hassan Nasrallah, eine vitalere Version Khomeinis.

Seit der Teilnahme am Syrienkrieg schwindet der Nimbus als Guerillabewegung, der der Hisbollah in der arabischen Welt anhaftet. Vorher stimmte die ideologische Positionierung als Gegenpol zu Israel, die Allianz mit Assad jedoch bedingt ein Dilemma: Wie kann man rechtfertigen, in Syrien gegen andere Muslime zu kämpfen? Die Hisbollah besetze fremdes Land, sagte Rami, sie mache nichts anderes, als Israel im Libanon getan hat.

Das Zentrum der Anlage bildete "The Abyss", der Abgrund; ein in einem Bombenkrater errichtetes Arrangement aus Geschützfahrzeugen, Kanonen, Stacheldraht, Patronenhülsen ...

Bis auf den hiesigen Zweig der Caritas hatte niemand auf meine Anfragen reagiert. Wir verfolgten daher eine neue, weitaus erfolgreichere Taktik: Unangemeldet tauchten wir in den NGO-Niederlassungen und -Camps auf, ich stellte Fragen, Rami übersetzte, Leo fotografierte. Umging man den bürokratischen Weg und konzentrierte sich auf die Aktivisten und Betroffenen vor Ort, funktionierte die Recherche den Umständen entsprechend reibungslos. Mehrere Tage verbrachten wir in der Beeka-Ebene. Im Grenzgebiet zu Syrien und Israel hat sich ein Großteil der Flüchtlinge angesiedelt. Von Baalbek bis nach Al-Qu lagen hinter Häusern oder in den Feldern abseits der Straße ihre provisorischen Behausungen.

Illegal im Land

Außerhalb Zahlés hielten wir an einem Lager. Eng aneinandergedrückte Baracken, bespannt mit UNHCR-Planen, mit Autoreifen beschwert. Rami sprach den Ersten an, der uns entgegenkam. Der Mann führte uns zu einer der Hütten. Wir könnten uns mit seinem älteren Bruder unterhalten, sagte Rami. Im Inneren zwei Frauen, eine mit Baby im Arm. Um einen weiteren Mann tummelten sich Kinder. Ein winziger Fernseher auf einem Regal, Sitzpolster, durch einen Vorhang getrennt der Schlafbereich. Der Mann stellte sich als Mohammed vor.

Shatila, Beirut.
Foto: Leonhard Pill

Bei Kriegsbeginn waren sie aus einem Dorf nahe Homs über die Berge hierhergekommen. Mohammed deutete in die Richtung, in der Syrien liegt. Tote Kinder, sagte er, und eine der Frauen unterbrach ihn: Es war kalt, Schnee lag auf den Gebirgspässen, viele schafften den Weg nicht. Den Zeltplatz mieteten sie für 1.200 Dollar pro Jahr, die Männer arbeiteten als Erntehelfer, Parkplatzwächter oder am Bau. Um einen Job zu ergattern, müsse man sich billiger hergeben als die einheimischen Tagelöhner. Ob er fotografieren dürfe, fragte Leo. Mohammed gab mit nachlässiger Handbewegung seine Einwilligung, bestand aber darauf, die Frauen nicht abzulichten. Sie erzählten wie die beiden Männer, auf den Bildern jedoch sind sie nicht präsent, auch ihre Namen gaben sie nicht bekannt.

Sie wahrten ihr Inkognito nicht aufgrund religiöser Bedenken, sondern der eigenen Sicherheit wegen. Oft waren die Frauen und Kinder illegal im Land, und einem Fremden begegnete man misstrauisch. Die Männer waren im Alltag sichtbarer und besaßen eine Aufenthaltsgenehmigung, auch um wie Mohammed mit den Kindern nötige Arztbesuche erledigen zu können. Die Papiere aber für die gesamte Familie zu beantragen war mit Kosten verbunden, die sich kaum jemand zu leisten vermochte. Assad will uns nicht, sagte Mohammed, wir haben nicht für ihn gekämpft. Als wir uns verabschiedeten, stand neben dem Auto ein Junge mit Plastikgewehr und salutierte, es wirkte wie eine Mahnung, dass der Krieg auf der anderen Seite des Bergzugs noch nicht zu Ende war.

Papiere für die ganze Familie

Über den Einfahrten Hisbollah-Fahnen, eine hochgereckte Faust mit Kalaschnikow, grün auf gelbem Grund. Entlang der Hauptstraße, an Strommasten und Hausmauern, klebten Plakate mit den Porträts verstorbener Männer, Märtyrer der Hisbollah oder Amals, einer weiteren schiitischen Miliz. Ich schlug vor, die Poster zu fotografieren, Rami zögerte. Wir müssen vorsichtig sein, sagte er, als Fremde würden wir uns verdächtig machen. Wir einigten uns darauf, langsamer zu fahren, sodass Leo von der Rückbank aus durchs Seitenfenster knipsen konnte. Dreimal handhabten wir diese möglichst unauffällige Prozedur: Rami ging vom Gas, Leo lehnte sich ein wenig hinaus, fotografierte, Rami fuhr weiter.

Dann überholte ein dunkelblauer Pick-up, schnitt uns. Rami bremste, fluchte. Der Pick-up hielt quer über der Straße, ein großer Typ sprang raus, schrie auf uns ein. Leo und ich verstanden nichts von seinen Worten, Rami gab sich gleichsam als Ausländer: We are tourists, wiederholte er. Weitere Männer tauchten auf, keine Ahnung, von wo. Photo, schrie der Große und spähte durch das Innere des Wagens. Leo hatte die Kamera unterm Sitz versteckt, wir beteuerten, nicht zu wissen, was das Problem sei. We are tourists, sagten wir und wurden alle drei nervöser. Um uns vereinzelte Häuser und Laternenpfähle, von denen die Märtyer mit festem Blick über die Ebene hinwegsahen.

Jemand rief: Passport. Der Typ, der uns angehalten hatte, riss mir meinen aus der Hand. Er unterbrach seine Tiraden, sagte in erstauntem Ton: Nemsa. Die arabische Bezeichnung für Österreich beruhigte die Lage. Ich erhielt den Pass zurück, man lud uns auf Tee ein, doch Rami verneinte, wir wären in Baalbek mit Freunden verabredet, leider. Die Männer wünschten uns eine gute Fahrt, und ebenso schnell, wie sie uns ertappt hatten, waren sie verschwunden. Sicher auch Fans von Mahler, sagte Leo, um die Anspannung aufzulösen. Oder von Hitler, erwiderte Rami.

Beeka-Ebene, zwischen Zahlé und Baalbek.
Foto: Leonhard Pill

Uniformierte Puppen

Die Küste entlang fuhren wir nach Süden, von Sidon in Richtung Jessine die Berge hoch. Auf einer Hügelkuppe liegt Mleeta, vormaliger Hisbollah-Stützpunkt und nunmehriges Museum im Dienste der eigenen Glorifizierung. Where the land speaks to heaven, so das Motto dieses ehrgeizigen Projekts, das den Tourismus ankurbeln und davon erzählen soll, wie man bis ins Jahr 2000 Israel Widerstand leistete.

Das weitläufige Areal aus Blumensträuchern, Bunkern und Denkmälern dient der Erinnerung an die eigenen Toten. "The Martyrs are a rope that connects the land with the heavens", sagte unser Guide. Wie viele Hisbollah-Kämpfer gefallen sind, wisse er leider nicht, fest stehe aber die Zahl der getöteten Israelis: 340 seien es gewesen. Einzig Nasrallah und sein Vorläufer al-Musawi wurden namentlich genannt, sämtliche anderen verschwanden unter Bezeichnungen wie "junge Männer", "Märtyrer", "die kampfbereite Jugend". Es gab ein Kino, der halbstündige Film brachte zu Marschmusik und Archivaufnahmen Nasrallahs Durchhalteparolen. Entlang der Waldwege stellten uniformierte Puppen zwischen den Bäumen verschiedene Aktionen nach, die medizinische Versorgung in einem Lazarett etwa oder das Abfeuern eines Raketenwerfers.

In einem Wärterhäuschen saß ein älterer Mann in Camouflage. Ein Hisbollah-Veteran, erklärte der Guide, der für herausragende Kampfleistungen mit diesem Job belohnt worden war. Aus dem Iran gelieferte Khaybar-1-Raketen dienten, zwischen Rosenbüschen drapiert, als Beleg für die eigene Macht, und als Beweis für die Kriegsverbrechen des Gegners hatte man die Reste israelischer Cluster- und Fassbomben zu einer Installation verschweißt, die eine rostbraune Flamme zeigte.

Schnelle Entwicklungen

Das Zentrum der Anlage bildete "The Abyss", der Abgrund; ein in einem Bombenkrater errichtetes Arrangement aus Geschützfahrzeugen und Kanonen, Stacheldraht, Patronenhülsen und erbeuteten Helmen. Eisenstangen ließen einen zerschmetterten Davidstern erraten, ein Panzer lag unter einem riesigen metallenen Spinnennetz, Anspielung auf eine Rede Nasrallahs, derzufolge sich Israel im Kampf mit der Hisbollah verfange wie die sprichwörtliche Fliege.

Beirut, Libanon.
Foto: Leonhard Pill

"The Abyss" wurde auf einem erhöhten, gezackten Pfad umrundet. Ein Panzer des Typs Merkava mit verknotetem Geschützrohr formte das Herzstück. Der Merkava galt als der fortschrittlichste, unüberwindbarste Panzer, dennoch wurde er von der Hisbollah zerstört, so der schadenfreudige Guide. Daneben stand ein aus Steinen gefertigter hebräischer Schriftzug: "Euer Fluch Libanon", übersetzte der Guide. Es sei eine Botschaft an die israelischen Spionage-Drohnen, die über uns durch den Himmel flögen, als Erinnerung, dass der Libanon nicht erobert werden kann.

Vergangenen Herbst versuchte ich, die Reportage zu Ende zu schreiben. Ein beinah unmögliches Unterfangen: Den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen war kaum nachzukommen. Alles, was wir im Sommer gesehen und erlebt hatten, zeigte sich geändert, verschärft. Die USA zogen sich aus dem Norden Syriens zurück, die Türkei marschierte daraufhin in der autonomen kurdischen Region Rojava ein.

Neue Fluchtbewegungen, neue Kämpfe. Die libanesische Regierung kürzte die Beamtenpensionen. Das Vorhaben, zudem die Nutzung von Whatsapp zu besteuern, brachte von Sidon über Beirut bis Baalbek Tausende auf die Straße. Seit 2015, als die desolate Müllentsorgung für Ausschreitungen gesorgt hatte, habe das Land nicht mehr solche Demonstrationen erlebt, schrieb mir Rami, diesmal werde sogar die Hisbollah verhöhnt.

Die Taktik des Boxers

Auch im Iran brachen Proteste aus, die schnell an Größe gewannen und nur noch vordergründig mit ihrem Anstoß, der geplanten Erhöhung der Benzinpreise, zu tun hatten. Die Taktik des Boxers erschien wie eine passende Metapher: Überall ging es darum, die Attacken eines Regimes auszukontern, in den Kopf des mächtigen Gegners zu gelangen, ihn Stück für Stück zu zermürben. Im Iran wurde das Internet abgedreht, die Weltöffentlichkeit erfuhr so gut wie nichts von den Geschehnissen im Land. Nach tagelanger Funkstille gab die Regierung am 21. November 2019 das WWW wieder frei.

Kaum waren die Messengerdienste online, erhielt ich Nachrichten einer Person, die ich während meines Aufenthalts kennengelernt hatte. Die Proteste seien beendet, war auf den Newsportalen zu lesen. Sie zeichnete ein gegenläufiges Szenario, schrieb vom Straßenkampf, von der Enttäuschung, dass die eigene Regierung die Demonstranten zum Abschuss freigebe. Die Hisbollah und Assad würden sich für die Unterstützung im Syrienkrieg revanchieren und ihre Killer schicken.

Der Ex-Boxer hatte recht gehabt, von der Mittelmeerküste bis nach Teheran ist der gesamte Raum in einer Weise miteinander verbunden, deren Ausmaße mir nicht bewusst gewesen waren. Um keinerlei Spuren zu hinterlassen, wurden die Mitteilungen gelöscht, sobald ich sie gelesen hatte. Währenddessen durchkämmten die syrischen und libanesischen Söldner die Teheraner Uni. Das Gelände gilt als schutzfreie Zone; Armee und Polizei dürfen diese per Gesetz nicht betreten, sie tarnten sich daher als Rettungskräfte und führten ab, wer ihnen in die Quere kam. Mein Kontakt befand sich auf dem Campus. Seit Tagen verschwinden Menschen, schrieb er aus seinem Versteck im Wohnheim, man ermorde sie im Gefängnis. (Robert Prosser, ALBUM, 8.2.2020)