Lesen bewirke "kleine, tief im Hirngewebe flackernde Lichter", schreibt Valeria Luiselli in Archiv der verlorenen Kinder. Was genau in Ex-Präsident Obamas Gehirn passierte, als er sich diesen Roman seiner Leseliste zu Gemüte führte, bleibt unbekannt. Bereits während seiner Amtszeit begann die Lage an der mexikanisch-amerikanischen Grenze zu eskalieren, als etwa 120.000 unbegleitete Kinder beim Versuch, sie illegal zu überschreiten, aufgegriffen wurden. Die in Mexiko geborene und in New York lebende Luiselli unterstützte damals als Gerichtsdolmetscherin asylsuchende Minderjährige bei ihrer Befragung durch die Behörden.

Die Ich-Erzählerin will vor allem die Perspektiven der aus Guatemala, Honduras oder Ecuador nach Norden wandernden Minderjährigen festhalten.
Foto: EPA/Esteban Biba

Nun hat sie diese Erfahrungen in einem Roman verarbeitet, in dem sie eine vierköpfige Familie auf einen Roadtrip von New York in den Südwesten schickt. Die Mutter will ein Radiofeature über die Situation der Minderjährigen im Grenzgebiet erstellen, Gespräche führen, Stimmungen sammeln. Ihr Mann ist Soundkünstler, sein Interesse gilt den verschwundenen Apachen, den letzten Ureinwohnern, die den weißen Eindringlingen widerstanden. Im Kofferraum befindet sich in Archivboxen Material zu beiden Themen: Dokumente, Fotos, existierende und erfundene Bücher.

Bleiberecht oder Deportation

Die Kinder auf dem Rücksitz, ein zehnjähriger Junge und ein fünfjähriges Mädchen, werden während der ihnen endlos scheinenden Fahrt mit Geschichten unterhalten. Außerdem hört die Familie Radio, Hörbücher, Popsongs. Die Geschwister bemerken, dass die Ehe der Eltern kriselt. So entwickelt sich im Laufe der Reise ein Ineinander kindlicher Wahrnehmungen und erwachsener Gedankenbilder auf Augenhöhe.

Die Kinder sind auch deshalb gleichberechtigt, weil die Ich-Erzählerin vor allem die Perspektiven der aus Guatemala, Honduras oder Ecuador nach Norden wandernden Minderjährigen festhalten will, die weite Strecken auf den Dächern eines Güterzugs, La Bestia genannt, zurücklegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf ihrer Tour Verbrechen zum Opfer fallen, dass sie verhungern und verdursten, ist relativ hoch. Ihre Herkunftsländer sind so arm, dass Migration die einzige Lösung zu sein scheint.

Kernstück des Romans bildet das mitgeführte fiktive Buch Elegien für verlorene Kinder, in denen die Reisen unbegleiteter Minderjähriger durch Wüste und feindselige Umgebung, ihr Zusammenhalt, ihre Ängste und Hoffnungen nachvollzogen werden. Verwandte, die die Kleinen losschicken, nähen ihnen Telefonnummern in die Krägen ihrer Kleider, damit sie nach ihrer sicheren Ankunft Vertraute anrufen können. Nicht alle Kinder schaffen es über die Grenze. Tun sie es doch, müssen sie auf amerikanischem Gebiet weiter durch eine Wüste, und sobald sie auf diesen Wegen aufgegriffen werden, entscheidet der bürokratische Hürdenlauf über Bleiberecht oder Deportation.

Poetisches Nachempfinden

Einmal beobachtet die im Gegensatz dazu privilegiert reisende Familie eine derartige Abschiebung von Kindern auf einem Flugfeld inmitten der Einöde, worüber die Ich-Erzählerin in unbeschreibliche Wut gerät. Bereits in ihrem Essay Tell Me How It Ends von 2017 stellt sich Luiselli die Frage nach der ethischen Rechtfertigung derartigen Vorgehens. Wo genau befindet sich der Punkt, an dem ein Kind aufhört, unschuldig zu sein? Wie wird bewerkstelligt, dass aus ihnen illegale Einwanderer und damit Kriminelle werden?

Im Roman sucht Luiselli nach einer angemessenen Darstellung, fern von Behördensprache und dem Ballast journalistischen Recherchematerials. Das poetische Nachempfinden in den fiktiven Elegien, welche die Autorin mit Zitaten von Ezra Pound bis Rilke anreichert, ist jedoch nur eine Form literarischer Verarbeitung.

Denn im Laufe des Roadtrips hinterfragt die Ich-Erzählerin immer wieder ihre eigene Position: Warum glaube ich, dass ich befugt bin, die Stimme dieser Kinder einzunehmen? Kann ein literarischer Text ihre Situation zum Besseren wenden? Reicht es, nur darüber zu erzählen? Ist politischer Aktivismus vielleicht effektiver? Über allem aber steht die Frage: Würden meine eigenen Kinder überleben, wenn sie in der Wüste auf sich allein gestellt wären?

Valeria Luiselli, "Archiv der verlorenen Kinder". Übersetzt von Brigitte Jokbeit. € 25,– / 432 Seiten. Kunstmann-Verlag, 2019

Klang und Raum

In ihrem Forschen ähnelt die Ich-Erzählerin trotz aller Differenzen dem Ehemann. Er plant, die blutige Gründungsgeschichte der USA ausschließlich in Geräuschen zu dokumentieren: "Er hat vor, Laute und Klänge aufzunehmen, die heute, in der Gegenwart, in denselben Räumen zu hören sind, in denen Geronimo und andere Apachen früher lebten, sprachen und sangen." Immerhin haben die beiden sich bei gemeinsam durchgeführten Tonaufnahmen in New York kennen- und lieben gelernt.

Damals archivierten sie im Zuge eines Forschungsprojekts sämtliche, an die 800, in der Stadt gesprochenen Sprachen. Luisellis Ausführungen zu Klang und Raum zählen neben den Gesprächen mit den Kindern, deren Kommentare oft klüger als die Überlegungen der Erwachsenen sind, zu den schönsten Passagen dieses Romans. Auf dem Rücksitz leben die Geschwister in spielerischen Szenen das ihnen von den Eltern Erzählte und das Mitgehörte aus. Allmählich glaubt die Ich-Erzählerin daher, dass eigentlich sie die Geschichte der vermissten Minderjährigen erzählen sollten: "Vielleicht waren ihre Stimmen die einzige Möglichkeit, die Lautmarken, Spuren und Echos festzuhalten, die diese Kinder hinterließen."

Daher wird der Erzählfaden im zweiten Romanteil von dem Zehnjährigen übernommen, der sich eines Nachts mit der Schwester davonstiehlt, um endlich so wichtig zu werden wie jene Verlorenen, von denen die Mutter dauernd spricht. Auch meint er, die zwei Töchter einer befreundeten Hausangestellten finden zu können, die auf ihrem Weg in den Norden verschwunden sind. Was wir lesen, ist natürlich das Echo der Kinderwelt in der Erwachsenenstimme der Autorin als weiterer Versuch, den Vermissten nahezukommen; der einzige Text im Roman, der etwas zu lang und etwas zu gewollt geraten ist.

Allein in der Wüste

Allein in der Wüste, haben die Stimmen der Kinder nicht einmal mehr ein Echo. Imagination und Wirklichkeit vermengen sich. Schließlich wird auch die Außenwelt wegen des grellen Lichts fast unsichtbar, wie auf den nicht gelungenen Polaroids, mit denen der Junge seine Erlebnisse dokumentiert. Die Hitze setzt den Kindern zu, sodass sie das Gefühl haben, nicht unter der Sonne, sondern auf ihr zu wandern. Doch sie werden gerettet. Die vermissten Mädchen hingegen sind ums Leben gekommen.

Ihre Stimmen sind für immer verstummt, während der Junge seine Erlebnisse auf Tonband festhalten konnte, gleichsam als Echo der Arbeit seiner Eltern. Das Echo bildet ein Leitmotiv sowohl der Komposition als auch der Inhaltsebene dieses klugen und berührenden Romans. Die aufgenommenen Sounds sind Echos von Verstorbenen; die im Buch abgedruckten Polaroids sind Echos der Geschichten; die Elterngespräche hallen in der Imagination der Geschwister nach; die Kinder agieren als Echos der Wünsche ihrer Eltern.

Bis heute befinden sich dies- und jenseits der Grenze an die 100.000 Minderjährige in Abschiebehaft. Zu den allein Eingereisten kamen in letzter Zeit diejenigen Kinder, die behördlicherseits von ihren Familien getrennt wurden. Mittlerweile dient auch Mexiko als Bollwerk gegen Migranten aus noch ärmeren Ländern. Luiselli rückt ihre Schicksale erneut eindrücklich ins Licht und erweitert mit diesem Roman die Möglichkeiten dokumentarischer Fiktion um einige Facetten. (Sabine Scholl, ALBUM, 8.2.2020)